Schutz statt Kürzungen – Soziale Arbeit am Limit


Seit 12 Jahren beraten und begleiten wir Sexarbeitende bei ihren individuellen Anliegen, z.B. Steuerfragen, dem Zugang zum Gesundheitssystem, Armut, Wohnungslosigkeit, manchmal auch Gewalt oder Zwang. Wir kämpfen also an vielen verschiedenen Baustellen und das meistens an unseren Kapazitätsgrenzen: für die Beratungsstelle arbeiten zwei hauptamtliche Sozialarbeitende auf insgesamt 1,5 Vollzeitstellen für bis zu 80 Klient*innen. Und das ist nur das Hellfeld. Hätten wir mehr Kapazitäten, würden wir vermutlich noch viel mehr Sexarbeitende antreffen. Doch unsere Reichweite könnte dem hingegen mit Blick auf die bevorstehenden Sparmaßnahmen sogar eingeschränkt werden.

Auch deshalb stehen wir heute hier und auch deshalb sind wir seit jeher auf das Ehrenamt angewiesen, denn ohne können unsere Angebote nicht in der Form aufrechterhalten werden: wir könnten nicht jede Woche auf die Straße oder in die Bordelle und Clubs fahren, Kondome verteilen oder Tests auf sexuell übertragbare Erkrankungen anbieten. Wir könnten unsere Adressierten nicht zu Terminen in anderen Organisationen begleiten. Wir könnten keine Spenden akquirieren und verwalten, von denen unser Angebot nach wie vor lebt. Und als wären das nicht schon genug Aufgaben, wird unsere Arbeit immer auch von der Aufgabe begleitet, gegen das Stigma, die Diskriminierung und Marginalisierung von Sexarbeitenden zu arbeiten. 

Seit Jahren wird mit Begriffen wie „sozialer Hängematte“, „Sozialbetrug“ und „Einwanderung in die Sozialsysteme“ Stimmung gegen Schutzbedürftige gemacht und damit die eigentlichen Probleme verschleiert. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen von Armut, Ausgrenzung, Rassismus, Diskriminierung, patriarchalen Strukturen, Ausbeutung und sozialem Abstieg bedroht. Wirtschaftsschwäche, Inflation und geopolitische Unsicherheit sorgen für wachsende Ängste. Besonders betroffen sind dabei Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung, Behinderungen, FLINTA-Personen, Arbeitslose und Menschen mit geringem Einkommen. Auf Sexarbeitende trifft vieles davon gleichzeitig zu. Sie brauchen also dringend staatliche Unterstützung und Schutz, doch die Regierungsparteien setzen auf Schuldenpakete, Aufrüstung und Hetze gegen Randgruppen. Statt ihrer Verantwortung nachzukommen, wird von Sozialkürzungen und Eigenverantwortung gesprochen – und damit strukturelle Probleme zu individuellen gemacht.

Um dem Problem, es sei kein Geld da, beizukommen, soll insbesondere der Sozialhaushalt gekürzt werden. Das führt dazu, dass Bund, Länder und Kommunen soziale Angebote streichen müssen, sodass diese nun in einem härteren Konkurrenzkampf um die übrigen Mittel kämpfen müssen, außer sie erfüllen sogenannte Pflichtaufgaben, die das Gesetz vorsieht. Diese sind aber immer schon nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Es sind die sog. nicht-pflichtigen Aufgaben, die einen echten Beitrag leisten, und jetzt Kürzungen erfahren, wovon gleich mehrere die Konsequenzen tragen müssen:

  1. Sozialarbeitende, die ihre ohnehin schlecht bezahlte Arbeit mit viel Herz und Idealismus durchführen und Gefahr laufen, eben diese oder gleich den ganzen Job zu verlieren oder unter widrigsten Umständen weiterzuführen, nämlich unterbesetzt: Es spricht Bände, dass es Sozialarbeitende gibt, die es erst im Urlaub schaffen, ihre Mails zu beantworten. Gleichzeitig wird in der Sozialen Arbeit trotz dieser Umstände wenig gestreikt: und zwar, weil ihre Adressierten massiv darunter leiden würden. Eine solche Solidarität muss endlich auch den politischen Entscheidungsträger:innen die Augen öffnen.  
  2. Einige Beratungsstellen für Sexarbeitende mussten bereits ein Fundraising durchführen, um ihre Beratungsstelle nicht schließen zu müssen. So halten Privatpersonen den Kopf dafür hin, dass diese wichtige Arbeit weitergehen kann. Allerdings spenden Menschen aufgrund bestimmter moralischer Vorstellungen eher selten für Sexarbeitende. Das Wohlwollen von Privatpersonen ist also niemals eine sichere Bank und darf es auch nicht sein. 
  3. Adressierte, in unserem Fall Sexarbeitende, werden noch weiter isoliert und können weniger teilhaben, z.B. an günstigem Wohnraum, damit sie nicht mehr im Bordell oder anderen Abhängigkeiten leben müssen. Dabei haben auch sie einen Anspruch auf Schutz und Unterstützung. Aber wer gewährleistet diesen, wenn es keine Fachkräfte gibt, die sich dafür einsetzen?
  4. Letztlich wird die gesamte Gesellschaft verlieren; auch Menschen, die aktuell noch nicht betroffen sind: wer will in einer Welt leben, in der Geld mehr wiegt als ein Menschenleben? In der Lobbyisten Politik machen? Wer will das, was gerade in Ultrageschwindigkeit an mühselig aufgebauten sozialen Strukturen eingerissen wird, später wieder aufbauen, weil man gemerkt hat, dass Menschen zurückgelassen werden, dass durch die aktuelle Politik der Raum für Rechtsextremismus größer wird und wir langsam und stetig kollektiv vereinsamen – um nur einige Beispiele zu nennen.

Deshalb appellieren wir an die Entscheidungsträger*innen in der Politik, so zu handeln, als könnten sie selbst morgen schon behindert, arm, krank, alt, ausgeschlossen, wohnungslos, Sexarbeiter*in oder Sozialarbeiter*in sein. Eine solche Empathie aus Distanz ist aber nicht das einzige! Entscheidend ist außerdem, dass Betreffende in politische Prozesse einbezogen werden. Solange sie nicht mitentscheiden, werden Entscheidungen ungerecht bleiben und weiter an den Lebensrealitäten vorbeigehen. 


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