Neben unserer täglichen Arbeit mit den Adressierten, macht es eine fachlich fundierte Soziale Arbeit nötig, sich auch mit den politischen und feministischen Diskursen rund um das Thema zu befassen. Leider werden diese oftmals moralisierend, wenig sachlich und ohne umfangreiches Hintergrundwissen geführt. Dabei treten unterschiedliche Akteur*innen in Erscheinung, die sich häufig selbst als Expert*innen framen, jedoch eine moralische Panik schüren, welche die ohnehin oft eingeschränkte gesellschaftliche Wahrnehmung auf das Thema weiter verzerren können.
In Münster haben sich in den letzten Monaten Auftritte dieser Art gehäuft, weshalb wir uns als einzige hiesige Interessensvertretung von Sexarbeitenden dazu gezwungen sehen, einige Inhalte daraus kritisch einzuordnen. Explizit befassen wir uns dabei mit Nadja Habibis Vorträgen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sozialarbeiterin und Aktivistin im linken, marxistischen Spektrum. Ihre Vorträge hielt sie sowohl bei der „Langen Nacht der Bildung“ des Instituts für Politikwissenschaft sowie bei der Ring-Vorlesung „Recht kritisch denken“ der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster.
1. Ausschluss statt Solidarität
Den Vortrag auf der „Langen Nacht der Bildung“ einleitend, bekundet Nadja Habibi volle Solidarität mit Sexarbeitenden, vertritt jedoch eine klar abolitionistische Haltung, die auf deren Abschaffung abzielt. Damit verengt sich die angepriesene Solidarität sogleich drastisch, während gleichzeitig eklatante Widersprüche offenbart werden. Die Tatsache, dass sich eine anwesende Sexarbeiterin aufgrund der Atmosphäre und der Inhalte nicht traute, auf einige Aussagen zu reagieren und sich beschämt fühlte, verdeutlicht, dass solche Zuschreibungen Stigmata, Ausschluss und damit das Gegenteil von Solidarität erzeugen. Räume, in denen Sexarbeitende aus Furcht vor Diskriminierung schweigen, stehen damit im Widerspruch zu emanzipatorischen Ansprüchen und wahrer Solidarität. Daneben hat ein solcher Ausschluss auch Effekte auf die Gesellschaft: er verunmöglicht ein kollektives Verstehen und Lernen hinsichtlich struktureller Bedingungen sowie ein Empowerment mit Blick auf patriarchale und kapitalistische Strukturen. Etwas, in dem wir uns alle befinden; etwas, mit dem wir alle einen Umgang suchen. Wer also Solidarität anpreist, muss sie auch leben – selbst dann, wenn unterschiedliche Überzeugungen aufeinandertreffen.
2. Das Viktimisierungsnarrativ
Dass diese Räume bei Habibis Vorträgen Grenzen haben, zeigt sich auch in dem reproduzierten Narrativ, dass Menschen in der Sexarbeit vor allem als entrechtete Opfer porträtiert. So scheint Solidarität lediglich denen vorbehalten, die „leiden“, die aussteigen wollen, die sich als stilisiertes Opfer des Patriarchats eignen. Das eine solche Perspektive Menschen entmündigt, indem sie ihnen Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit abspricht, wird geflissentlich ignoriert. Echte Solidarität erfordert jedoch die Anerkennung aller Sexarbeitenden als selbstbestimmte, verantwortliche und auch politische Subjekte, selbst wenn sie unter prekären Bedingungen leben und arbeiten.
3. Kapitalismuskritik braucht Bündnisse – nicht Ausschlüsse
Im Gegensatz dazu skizziert Habibi politisierte, aktivistische Sexarbeitende als ein Problem: Sie würden durch das Anbieten sexueller Dienstleistungen ein misogynes Frauenbild reproduzieren. Das zeigt, wo bestimmter Feminismus an seine Grenzen stößt – etwa dort, wo Menschen widerständig sind und für ihre Rechte eintreten uns insbesondere dann, wenn es nicht der eigenen Überzeugung entspricht. Wir nennen das einen falsch verstandenen und sexarbeitsfeindlichen Feminismus.
Habibi beruft sich dabei immer wieder auf marxistische Theorie, bleibt aber eine konkrete Klassenanalyse schuldig. Sie spricht meist in privilegierten, akademischen Kontexten und das ist auch okay, denn auch sie muss innerhalb kapitalistischer Bedingungen ihren Lebensunterhalt sichern (genauso wie Sexarbeitende übrigens auch). Dennoch verkennt sie damit die politische Organisierung von Sexarbeitenden als Teil der Arbeiter*innenklasse, die für bessere Bedingungen kämpfen und damit zentraler Aspekt jedes ernst gemeinten marxistischen Anspruchs sein sollten. Der Vorwurf der „privilegierten Sexarbeiterin“ greift hier nicht (das tut er übrigens nie): Strukturell erfordert politisches Engagement bestimmte Ressourcen, über die nicht alle verfügen, z.B. Geld, Zeit und Mut. Trotzdem hilft dieses Engagement auch jenen, die sich selbst nicht äußern (können oder wollen).
4. Der liberale Feminismus als Feindbild
Dass liberale Beratungsstellen Sexarbeit als Arbeit anerkennen, nutzt Habibi für die populistische Schlussfolgerung, dass Vergewaltigungen dieser Logik folgend Kontexten von Zwangsarbeit entsprechen würden. Diese grobe und gefährliche Vereinfachung verwischt die Grenzen zwischen Gewalt und konsensualer Entscheidungen und spricht Überlebenden sexualisierter Gewalt ihre Erfahrungen ab. Weiter behauptet Habibi, dass einige Stimmen des liberalen Spektrums Menschenhandel „Arbeitsmigration“ nennen würden. Dabei unterscheiden wir seit jeher ganz strikt zwischen konsensueller Sexarbeit und sexuellen Zwangslagen. Beides sind unterschiedliche Gegenstände, die auch differenziert betrachtet werden müssen. Dabei stellt es keinen Widerspruch dar, gleichzeitig für die Rechte von Sexarbeitenden und gegen Menschenhandel zu sein. Werden diese Themen miteinander vermischt, drohen beiden, Sexarbeitenden sowie Opfern von Menschenhandel horrende Folgen.
Diesem Vorwurf stellen wir also uns entschieden entgegen. Unsere langjährige Vernetzung mit anderen akzeptierenden Beratungsstellen zeigt das Gegenteil: wir und andere Beratungsstellen arbeiten eng mit Organisationen gegen Menschenhandel zusammen und setzen uns gemeinsam differenziert und engagiert für Betroffene ein. Solche Aussagen sind also nicht nur ein Schlag gegen engagierte Kolleg*innen in der Sozialen Arbeit, sondern nähren auch das Narrativ einer „Prostitutionslobby“, in dem liberalen Stimmen eine Nähe zu krimineller Machenschaft unterstellt wird, wodurch nicht nur und vor allem Sexarbeitende, sondern auch Sozialarbeitende in diesem Feld Stigmatisierung erleben, auch bekannt als Stellvertretenden- oder Courtesy-Stigma. Diesem leistet Habibi mit solchen Ausführungen genauso einen Bärendienst, wie den vielen Stimmen des radikalen Spektrums, die oft in evangelikalen und fundamentalistischen Bewegungen verstrickt sind.
5. Wann hat ein Verbot jemals zu mehr Rechten verholfen?
Der Versuch, Sexarbeit durch gesetzliche Verbote zu unterbinden, steht auch Habibi nah, weil sie generell nicht mit Sexarbeit einverstanden ist. Nur löst die Verbotspolitik die patriarchalen Strukturen, Diskriminierung oder Ausbeutung keineswegs auf, sondern verlagert lediglich ihre Sichtbarkeit in einen gefährlichen Untergrund. Sexarbeitende werden dadurch nicht gestärkt, sondern in Prekarität gedrängt und das, was als ihr Schutz verkauft wird, wird zu ihrem größten Risiko. Ihre Existenz würde gefährdet, ohne die dahinterliegenden patriarchalen und kapitalistischen Strukturen tatsächlich in Frage zu stellen oder gar zu bekämpfen. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, aufgrund einer moralischen Panik und dem Wunsch, das System zu stürzen, diejenigen ans Messer zu liefern, die damit angeblich geschützt werden sollen. Hilfreich wäre also gewesen, wenn Habibi in ihren Vorträgen nicht nur die Folgen einer Liberalisierung nachgezeichnet hätte, sondern auch die der Abschaffung bzw. Kund*innenkriminalisierung, wie sie z.B. in Schweden herrscht. Eine solch selektive Wahl an Inhalten ist vor allem für uninformierte Gäste problematisch, denen damit eine bestimmte Lösung verkauft wird, ohne alle Fakten zu liefern, die für eine Meinungsbildung unabdingbar sind.
Wir teilen mit Habibi die Kritik an patriarchalen Machtverhältnissen, an kapitalistischer Verwertung und an Gewalt gegen Betreffende. Doch während sie diese Kritik durch Ausschluss und Verbotspolitik sowie durch eine Diskreditierung von Sozialarbeitenden zu lösen versucht, setzen wir auf Solidarität, Anerkennung und Teilhabe.
Unsere Forderungen
Anerkennung, Respekt und Machtreflektion
Gerade weil wir sexistische Gewalt bekämpfen wollen, müssen Sexarbeitende als handelnde Subjekte anerkannt werden, anstatt ihnen selbst Gewalt anzutun – etwa durch das Ignorieren ihrer Stimmen, das Aberkennen ihrer Selbstbestimmung oder das Schließen der Räume, in denen sie sich artikulieren können. Sexarbeitende geben ihr Recht auf Unversehrtheit nicht mit der Aufnahme der Tätigkeit ab. Diese Forderung richtet sich dabei nicht nur an die Nutzenden sexueller Dienstleistungen, sondern eben auch an Wissenschaffende, Sozialarbeitende und Menschen, die auf Vorträgen über Sexarbeitende reden. Wir plädieren daher für eine differenzierte, respektvolle und machtreflektierte Auseinandersetzung – eine, die die Stimmen von Sexarbeitenden nicht ignoriert, sondern sie in ihrer Vielfalt und ihren Entscheidungen anerkennt.
Sichere und solidarische Räume
Dafür braucht es sichere und geschützte Räume; Orte, an denen politische Differenz gelebt werden kann, ohne dass das Existenzrecht der einen dem moralischen Urteil der anderen geopfert wird. Dabei sollten die Kämpfe gegen Ausbeutung, Stigma und patriarchale Gewalt nicht gegeneinander ausgespielt werden, denn nur durch Bündnisse können wir ihnen wirksam begegnen – auch und gerade in der Sexarbeit. Und zwar auch dann, wenn sie unter wirtschaftlichen Notlagen als eine mögliche Alternative gewählt wird. Diese ist – wie jede andere Arbeit auch – in ein System eingebettet, das Ausbeutung und Ungleichheit produzieren kann. In solidarischen Räumen erkennen wir an, dass Menschen unter diesen Bedingungen eigene Strategien des Überlebens und der Selbstermächtigung entwickeln. Solidarische Räume dürfen nicht exklusiv und moralisierend sein, sondern brauchen Vielfalt, Offenheit und Anerkennung.
Fakten statt Mythen
Wir fordern dazu auf, nicht nur die Inhalte weiterzugeben, die der persönlichen Haltung entsprechen, sondern auch widersprechende Daten oder Überzeugungen einzubeziehen; gerade weil das Thema Sexarbeit hochkomplex und der Umgang damit ambivalente Gefühle hervorrufen kann. Klar ist: scheinbar einfache Lösungen bei einem so komplexen Thema, sind meistens die falschen.
Kein politischer Aktivismus auf dem Rücken der Wissenschaft
Wir fordern dazu auf, in universitären Kontexten und auf Vorträgen, die als wissenschaftlich verkauft werden, keinen politischen, ideologiegeführten Aktivismus zu betreiben. Bei den Vorträgen ging es eben nicht um ein rein politisches Event. Im Gegenteil: Bei der Ring-Vorlesung legen Studierende eine Prüfung ab und erhalten Leistungspunkte. Das allein verpflichtet zu einem differenzierten, objektiven und wissenschaftlich sauberen Umgang. Deshalb fordern wir auch die Universität dazu auf, ihrer Verantwortung bei der Wahl der Referierenden nachzukommen. Eine Rezension zur fraglichen wissenschaftlichen Tragfähigkeit der Bachelorarbeit Habibis, auf die sie sich insb. bei der Ring-Vorlesung bezog, ist bereits veröffentlicht.
Nicht über sondern mit
Wer eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema herstellen will, lädt nicht nur Personen ein, die ein bestimmtes Bild von Sexarbeit zeichnen. Mindestens also sollten unterschiedliche Perspektiven bereitgestellt werden und am besten, durch die Expertise der Betreffenden selbst. Diese stellen sie seit Jahren bereit, auch trotz des Risikos, dadurch Diskriminierung und Stigmatisierung zu erfahren.