Forschungsstelle Für Gestaltung
Tugend und Terror

[ Die Französische Revolution und die Folgen ]

INTERVIEW MIT PROF. DR. RENATE RIEMECK

von Wolfgang Weirauch


Seite 4

Revolution in Deutschland - Vormärz

W.W.: Zur Zeit der Französischen Revolution gerät die soziale Ordnung Deutschlands in eine tiefe Krise. Der einheitlichen Nation Frankreich und der Beseitigung der Standesschranken stehen in Deutschland Hunderte, meist absolutistisch regierte Territo rien gegenüber. Zwar blühte das Geistesleben, aber es fehlte an selbstbewußtem Bürger tum. Nach dem gänzlichen Zusammenbruch der deutschen Staaten, herbeigeführt durch Napoleon (1806), gibt es vielerlei Reformbewegungen im sogenannten Vormärz (1815 1848), meist mit dem Ziel, einen Nationalstaat auf parlamentarischer Grundlage zu schaffen. War dieser Nationalgedanke damals bereits eine revolutionäre Kraft?

R. Riemeck: Die Deutschen hatten es immer schwer mit der Nation. Es war stets ein Problem, auch in der Revolution von 1848, festzulegen, in welchen Grenzen das, was man Deutschland nannte, lag. Auch in der Zeit des sogenannten Vormärz ist das immer wie dererörtertworden:WerundwassindwirDeutschen?Dabeistelltemanfest,daßdas,was in Frankreich selbstverständlich als Nation empfunden wurde, aufgrund der deutschen Geschichte in dieser Region nicht vorhanden war. Deutschland war, wo man deutsch sprach. Wo ist denn anders Deutschland zu finden, als in der Sprache? Das Deutschland lied, welches damals entstand, sang von einem Deutschland in fließenden Grenzen, nicht von einem Nationalstaat. Während der Freiheitskriege fragte man, was das Vaterland der Deutschen sei. Die Empfindung, daß man eine Nation ist, war für die Deutschen vor der Revolution von 1848 schwer zu fassen.

W.W.: War es denn möglich, als es mit Ausnahme von Rußland und England in allen europäischen Ländern revolutionsartige Aufstände gegen die Überreste der alten Feudal ordnung, die absolutistischen Staatsverfassungen, gab, eine deutsche Nation zu gründen?

R. Riemeck: Die Paulskirchen-Versammlung von 1848/49 wollte eine konstitutionel le Monarchie, das "Reich", schaffen. Aber man wußte nicht, wer der König oder Kaiser sein sollte. Das war die Last, die man in den deutschen Landen zu tragen hatte, und des wegen war es auch leicht, diese Revolution zu unterdrücken. Die Verfassung, die 1848/ 49 entstand, ist sogar eine sehr gute. Aber sie ist nicht verwirklicht worden. Auch die Einheit der Nation, um die es dabei ja wesentlich ging, konnte nicht hergestellt werden, weil es kein Fundament für diese Nation gab.

Schließlich und endlich hat dann Bismarck die Angelegenheit mit "Blut und Eisen" gelöst, indem er die "Einheit der Nation" im Deutschen Reich von 1871 erzwang. Es war keine Schöpfung des deutschen Volkes, sondern eine der deutschen Fürsten. Das muB man ganz klar sehen. Dieses Bismarck-Reich konnte keinen Bestand haben. Es ging in zwei Weltkriegen zugrunde. Weil die Revolution von 1848 scheiterte, ging Deutschland letztlich in seinen Niedergang.

W.W.: Vorerst sieht es so aus, als hätte die Revolution im März 1848 gesiegt, Metternich wird gestürzt, der preußische König zieht in Berlin seine Truppen zurück, er kommt der Forderung nach nationaler Einheit nach, ein liberales Ministerium wird ein gesetzt und eine preußische Nationalversammlung tritt zusammen. Aber wieder wurden die unteren Schichten nicht berücksichtigt, was zu erheblichen Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen führte. - Ein Vororgan für eine Nationalversammlung, die eine erste gesamtdeutsche Regierung einsetzen sollte, trifft sich am 30.03.1848 in der Paulskirche.ZwarbeschließtdieNationalversammlungfortschrittlicheGrundrechte:die Rechtsgleichheit aller Menschen und damit die Abschaffung des Adelsstandes, Mei nungs- und Glaubensfreiheit, Recht auf Eigentum - aber versäumt wurde angesichts des Elends der Massen eine soziale Verpflichtung des Eigentums sowie eine Durchsetzung des Anspruchs auf soziale Sicherung. Waren die sozialen Interessengegensätze, die daraus entstanden, noch nicht im Bewußtsein der Abgeordneten? Waren dies nicht wieder entscheidende Versäumnisse?

R. Riemeck: 1848/49 hätte mit seiner Verfassung einen großen Fortschritt gebracht. Aus dem heutigen Blickwinkel liegt es nahe zu sagen, daß man wiederum nicht an die unteren Schichten gedacht habe bzw. an ihre soziale Sicherung, also an die Arbeiter und das Proletariat. Doch es gab das Proletariat zu dieser Zeit ja noch nicht, es beginnt sich erst gerade herauszubilden. Leider aber wurde der Versuch einer Verfassung durch die deutschen Obrigkeiten zerschlagen. Wir sollten nie vergessen, was während der Revolu tion 1848 gedacht worden ist, sich aber leider nicht verwirklichen ließ.

W.W.: Wie erklären Sie es sich, daß die Menschen der Paulskirchen-Versammlung, welche recht bedeutende Persönlichkeiten waren, mit ihren Ideen nicht durchdrangen? Durch den Krieg Dänemark - Preußen in Schleswig-Holstein wurde sehr schnell deutlich, daß die Zentralgewalt überhaupt noch nicht bei der Nationalversammlung lag. Von der Annahme oder derAblehnung des Waffenstillstandes zwischen Dänemark und Preußen hing das Schicksal dieser Nationalversammlung ab. Weil die Nationalversammlung den Waffenstillstand befürwortete, war dies ein Sieg Preußens über die Nationalversammlung. Ist diese Schwäche ein Ergebnis der tiefgreifenden Differenzen der einzelnen politischen Gruppierungen iMerhalb der Nationalversammlung, oder wie erklären Sie sich die Schwäche dieser Paulskirchen-Versammlung?

R. Riemeck: Sie schieben sehr viel - und das mit Recht - auf den Militärstaat Preußen, der alle demokratischen und fortschrittlichen Ideen in Deutschland stets bekämpft hat. Der Krieg Dänemark-Preußen fällt in den Frühling und Sommer 1849. Da war die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche schon an ihrem Ende. Sie hatte am 28. März den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum deutschen Kaiser gewählt. Der König lehnte die Kaiserkrone schroff ab. Damit war die Hoffnung auf ein geeintes deutsches Reich zerschlagen worden.

Mit dieser Enttäuschung mußte die Paulskirche fertig werden, während in Schleswig HolsteindieBayern,SachsenundPreußensichGefechtemitdenDänenlieferten.Esging dabei um die Frage der Einverleibung Schleswigs in Dänemark, ein Vorschlag, den Englands Premierminister Lord Palmerston ausgeklügelt hatte.

Die Paulskirche sah sich mit großer, europäuscher Politik konfrontiert. Dem waren die Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments nicht gewachsen. Sie protestierten vergeblich gegen den Waffenstillstand, der mit den Dänen geschlossen wurde, haben sich daM aber damit abgefunden. Was sollten sie auch anderes tun?


Das Versagen des Bürgertums

W.W.: So ganz klar ist mir das noch nicht. Wenn wir noch eiMmal auf die Nationalver sammlung von 1848/49 schauen, so sind es die dort versammelten Menschen, die für die Annahme des Waffenstillstandes zwischen Dänemark und Preußen gestimmt haben und damit Preußen die Oberhand zugebilligt haben. Zwar gab es zuerst einen Sieg der Linken, also eine Ablehnung des Waffenstillstandes, die aber durch einen erneuten Beschluß zurückgenommen wurde. Ähnlich war es mit der kleindeutschen Lösung, die ebenfalls von der Nationalversammlung angenommen worden ist. Es kann also nicht nur die preußische Militärmacht gewesen sein, sondern es waren die in der Paulskirche versam melten Menschen selbst, die entsprechende Beschlüsse gefaßt haben. Wenn man zusätz lich bedenkt, daß, während die Nationalversammlung in der Paulskirche zusammentrat, Marx und Engels das "Kommunistische Manifest" geschrieben haben, so ist es mir die Frage, ob diese Nationalversammlung nicht die letzte Chance des deutschen Bürgertums gewesen ist, die politischen Verhältnisse im Sinne einer Neugestaltung von Grund auf zu ändern. Haben sie nicht versagt?

R. Riemeck: Ja, sie haben versagt! Aber sie mußten auch versagen, denn sie hatten nicht dafür gesorgt, daß sie eine Macht darstellten. Me Abgeordneten der Paulskirche schauten bei dem Krieg Preußen gegen Dänemark zu; wer sollte denn gegen Preußen marschieren? Das wären dieselben Menschen gewesen, die im Großherzogtum Baden 1849 als Revolutionäre kämpften und in Rastatt zusammengeschossen worden sind. Me Militärmacht, die sich in Preußen darstellte, muß man bei allem bedenken, was in Deutschland fehlgelaufen ist. Es war eine Militärmacht ohnegleichen. Deshalb ist es auch überhaupt nicht verwunderlich, daß die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darauf gesehen haben, Preußen zu zerschlagen. Preußen durfte nicht wiedererstehen.

W.W.: Die Militärmacht Preußen muß für sehr viele Deutsche etwas Verführerisches an sich gehabt haben. Wie kommt es, daß die meisten Deutschen in Bismarck vor dem Krieg gegen Österreich den bestgehaßten Mann sahen, die Liberalen bei den preußischen Landtagswahlen sehr viel mehr Stimmen als die Konservativen bekamen, aber nach dem Sieg Preußens über Österreich (1866) Bismarck in den Himmel lobten? Ist dies die Verführung der Deutschen, Machtpolitik zu betreiben? R. Riemeck: Damit kommen Sie auf ein sehr schwieriges Gebiet deutscher Geschich te. Bismarck war kein national empfindender Deutscher. Er war durch und durch ein preußischer Staatsmann, kein deutscher. Zu letzterem haben ihn die national empfinden den Deutschen erst gemacht, weil sie meinten, durch die Ausrufung des preußischen Königs zum deutschen Kaiser wären die nationalen Hoffnungen erfüllt. Die Liberalen waren bis 1866 - eigentlich sogar noch bis zu dem Deutsch-Französischen Krieg - gegen die preußische Dominanz, aber danach schlägt das um. Sie werden plötzlich von dem Gedanken erfüllt, daß Preußen die Nation sei. Bismarck erfüllte die früheren Hoffnungen der Deutschen auf die Einheit der Nation. Mommsen und Treitschke waren früher als Li berale Gegner Bismarcks und seiner konservativen Politik. Später bejubelten sie ihn.

W.W.: Der Nationalgedanke im Zusammenhang mit der Machtpolitik war also der Todeskeim einer wirklichen Einheit einer deutschen Nation?

R. Riemeck: Ja gewiß, es war die Identifizierung des Nationalen mit dem Militärstaat Preußen. Mit militärischen Mitteln hatte der preußische König die Nation geeint. Aber es gab auch Menschen, die bis zuletzt gegen das Preußentum als hochmilitarisierter Herrschaftsmacht gekämpft haben.

Zu ihnen gehört Constantin Frantz, der geistige Widerpart Bismarcks. Er hat hervor ragende politische Bücher und Schriften verfaßt, die heute leider vergessen sind. Den deutschen zentralistischen Einheitsstaat von 1871, wie Bismarck ihn schuf, hielt er für Deutschlands Unglück. Eine Föderation deutschsprachiger Länder, die kulturell geeint wären, die in Recht und Wirtschaft zusammenarbeiten sollten, aber keiner Zentralgewalt unterständen, - das war sein (antipreußischer) Vorschlag. Gedanken einer Dreigliederung des sozialen Organismus liegen seinen, gegen Bismarck gerichteten Vorschlägen zugrun de. Sie könnten heute neu durchdacht werden, nachdem das Bismarckreich endgültig versunken ist. Die Revolution von 1848 rnit ihren liberalen Ideen ist erst nach 1871 aus dem Bewußtsein verdrängt worden.


"Man kann nur aufwachen, wenn man weiß, daß man vorher geschlafen hat"

 

W.W.: Ich möchte mit einem Zitat von Rudolf Steiner aus "Geschichtliche Sympto matologie" abschließen: "Zwei Mnge fielen zusammen in diesen vierziger Jahren. Das Proletariat war noch nicht vollständig seiner historischen Grundlage entbunden, es existierte noch nicht mit vollem Bewußtsein. Das Proletariat war erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts reif, bewußt einzutreten in die geschichtliche Entwickelung. Was vorher lag, ist nicht im modernen Sinne des Wortes proletarisches Bewußtsein. Die soziale Frage war natürlich früher da. (...) Träger der politischen Zivilisadon der damaligen Zeit war im wesentlichen das Bürgertum, war im wesentlichen die Mittelschicht, von der ich eben gesprochen habe. Nun war das Eigentümliche der Ideen, die dazumal in den vierziger Jahren hätten poli tisch werden können, ihre ganz intensive Abstraktheit. Sie alle kennen ja, ich hoffe, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, was alles an - man nennt es revolutionären Ideen, aber es war wirklich nur liberal -, was dazumal in den vierziger Jahren an liberalen Ideen in die Menschheit eingeströmt ist und sich 1848 entladen hat. Sie kennen das und wissen ja wohl auch, daß Träger dieser Ideen das Bürgertum war, das ich Ihnen eben cha rakterisiert habe. Aber alle diese Ideen, die dazumal lebten, die so eindringen wollten in die geschichtliche Entwickelung der Menschheit, waren restlos intensiv abstrakte Ideen. Sie waren die allerabstraktesten Ideen, manchmal bloße Worthülsen. Aber das schadete nichts, denn im Zeitalter der Bewußtseinsseele mußte man durch die Abstraktheit durch. Man mußte die leitenden Ideen der Menschheit einmal in dieser Abstraktheit fassen.

Nun, der einzelne Mensch lemt nicht an einem Tag schreiben, nicht an einem Tag lesen, das wissen Sie, nicht wahr, von sich und anderen . Die Menschheit braucht auch eine gewisse Zeit, wenn sie mit irgendetwas eine Entwickelung durchmachen soll, sie braucht immer eine gewisse Zeit. Es war - wir werden auf diese Dinge noch genauer eingehen der Menschheit Zeit gelassen bis zum Ende der siebziger Jahre. Wenn Sie 1845 nehmen, 33 Jahre dazurechnen, dann bekommen sie 1878; da erreichen Sie ungefähr dasjenige Jahr, bis zu welchem der Menschheit Zeit gelassen war, sich hineinzufinden in die Realität der vierziger Jahre. Das ist in der historischen Entwickelung der neuzeitlichen Menschheit etwas außerordentlich Wichtiges, daß man diese Jahrzehnte ins Auge zu fassen vemmag, die da liegen zwischen den vierziger und den siebziger Jahren. Denn über diese Jahrzehnte muß sich der heutige Mensch völlig klar werden. Er muß sich klar werden darüber, daß in diesen Jahrzehnten, in den vierziger Jahren, begonnen hat, in abstrakter Pomm in die Menschenentwickelung einzufließen das, was man liberale Ideen nennt, und daß der Menschheit Zeit gelassen war bis zum Ende der siebziger Jahre, um diese Ideen zu begreifen, diese Ideen an die Wirklichkeiten anzuhängen.

Träger dieser Ideen war das Bourgeoistum. Aber das hat den Anschluß versäumt. Es liegt etwas ungeheuer Tragisches über der Entwickelung dieses 19. Jahrhunderts. Es ist wirklich für denjenigen, der in den vierziger Jahren manchen hervorragenden Menschen - über die ganze zivilisierte Welt waren solche ausgebreitet - aus dem Bürgerstande reden hörte über das, was der Menschheit gebracht werden sollte auf allen Gebieten, in diesen vierziger, noch Anfang der fünfziger Jahre manchmal etwas wie von einem kommenden Völkerfrlihling. Aber aus den Eigenschaften heraus, die ich Ihnen charakterisiert habe für dieMittelschichte,wurdederAnschlußversäumt.AlsdiesiebzigerJahrezuEndegingen, hatte der Bürgerstand die liberalen Ideen nicht begriffen. Es wurde von dieser Klasse, von den vierziger bis in die siebziger Jahre, dieses Zeitalter verschlafen. Und die Folge davon ist etwas, auf das man schon hinschauen muß. Denn die Dinge müssen sich ja in auf- und absteigenden Wellen bewegen, und eine gedeihliche Entwickelung der Menschheit in die Zukunft kann nur stattfinden, wenn man rückhaldos auf dasjenige sieht, was sich da in der jüngsten Vergangenheit abgespielt hat. Man kann nur aufwachen im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wenn man weiß, daß man vorher geschlafen hat. Wenn man nicht weiß, wann und wie lange und daß man geschlafen hat, so wird man eben nicht aufwa chen, sondem wird weiterschlafen.

Wie anders haben sich die Menschen die Gestaltung des politischen Lebens in den vierziger Jahren gedacht, als es am Ende des 19. Jahrhunderts über die ganze zivilisierte Welt gekommen ist! Es gibt keinen größeren Gegensatz als die allerdings abstrakten, aber in ihrer Abstraktheit nicht vollen Ideen der Jahre von 1840 bis 1848 und das, was man im 19. Jahrhundert auf den verschiedensten Gebieten der Erde 'hohe Menschheitsideale' genannt hat, was man hohe Menschheitsideale genannt hat noch bis in unsere Tage herein, bis alles in die Katastrophe hineingerutscht ist von diesen hohen Menschheitsidealen." (Rudolf Steiner: Geschichtliche Symptomatologie. GA 185, Domach 1962, S.92 ff.)

Im weiteren Verlauf spricht Rudolf Steiner noch darüber, daß dann, wenn diese Ideen - nur als Hypothese genommen - sich hätten verwirklichen können, derAnfang eines sehr viel toleranteren Geltenlassens des einen Menschen neben dem anderen möglich gewor den wäre. Und damit wären wir wieder bei der Brüderlichkeit, die während der Franzö sischen Revolution nur als abstraktes Ideal aufgekommen ist, aber bis heute noch keine Verwirklichung gefunden hat. Ist es nicht eine große Tragik, daß in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts diese Möglichkeit eines Aufgreifens der angesprochenen Ideen und der daraus fließenden Ideale möglich gewesen wäre, daß es aber wieder einmal nichts geworden ist?


Die 33 Jahre im letzten Jahrhundert

R. Riemeck: Wenn man die Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts nimmt, von denen Rudolf Steiner in dieser Textstelle spricht, so kann man bemerken, daß gewisse Früchte auf das hinauslaufen, was Rudolf Steiner den Goethanismus nennt. Und das möchte ich nicht nur auf die Philosophie, sondem auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgedehnt wissen. In seiner Schrift "Vom Menschenrätsel" aus dem Jahre 1916 be schreibt Rudolf Steiner genau, was in diesen Jahrzehnten hätte geschehen sollen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Ende der Goedhezeit und dann setzt in den vierziger Jahren eine Abwendung von dem ein, was in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch als guter Keim in den mitteleuropäischen Seelen angelegt gewesen ist. Aber das bricht dann in der Jahrhundertmitte ab.

Ich habe mal eine Untersuchung darüber gemacht, was sich in den Jahren ab 1845 in den einzelnen Menschenseelen ereignet hat. Man könnte dies an Marx, Schelling und sehr vielen anderen nachweisen, wie sich ihr Schicksal in den vierziger Jahren grundlegend ändert. Auch an Leopold von Ranke könnte man es nachweisen, der zuerst ein großer Weldhistoriker war, aber dann nach der Jahrhundertmitte anfängt, preußischer Hofgeschichtsschreiber zu werden. Was für ein Abfall in der Mitte des letzten Jahrhunderts! Diesen Abfall in der Mitte des letzten Jahrhunderts an den verschiedensten Gestalten nachzuweisen, wäre eine schöne Aufgabe. Ich wünschte, ich hätte Doktorarbeiten zu vergeben. Wie ist es möglich, daß der große Ranke plötzlich keine weltgeschichdichen Aspekte mehr besitzt, sondem beginnt, die Enge der preußisch-deutschen Geschichts schreibung anzunehmen. Es gab auch Naturwissenschafder, die neue Ideen gebracht haben, aber die meisten sind kläglich zugrunde gegangen; nur Karl Christian Planck und Preuß haben die damaligen Verhältnisse überstanden und sind ihren Anschauungen treu geblieben.

In den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts gab es noch konkrete Ideen, in den 33 Jahren zwischen 1845 und 1878 warZeit gelassen, diese Ideen aufzugreifen, aber alles bricht in der Mitte dieses Jahrhunderts in sich zusammen. Man kann dies an den einzelnen Schicksalen der Menschen nachweisen. Das hängt nach Rudolf Steiner mit dem Sturz der Geister der Finstemis zusammen. Und in diese Verfinsterung hinein fällt der Aufsteig Preußens zu der Militärmacht in Europa.

Der Schatten dieser Militärmacht liegt noch heute über uns. Denn wir streben immer noch an, uns mit Militärmacht gegen äußere Feinde zu behaupten, aber die stillen Größen, wo bleiben die? Diese stillen Größen gehören zu Mitteleuropa, nicht zu einem Militärstaat. Aber zu einem solchen ist Deutschland wiederum geworden. Und so liegt Deutschland zwischen Buchenwald und Weimar, zwischen diesen beiden Extremen liegt alles begründet, was wir heute als Ergebnis haben.

Ende

Flensburg 1989 (Einige Passagen wurden von uns gekürzt)