Die Warnungen des Grafen Saint-Germain verhallten im Wind
WW.:Eine geheimnisvolle Gestalt ist der Graf Saint-Germain.IneinemVorlragüber Christian Rosenkreutz und die Tempellegende spricht Rudolf Steiner über den christli chen Grundsatz, daß die Menschen alle vor Gott gleich sind und fährt bezüglich der Fran zösischen Revolution fort: "Die Französische Revolution hat dann die Konsequenz der christlichen Lehre im weltlichen Sinne vollzogen. Die spirituelle Lehre des Christentums: alle Menschen sind gleich vor Gott, wurde durch die Französische Revolution in eine rein weltliche Lehre übertragen: alle sind hier gleich. Die neue Zeit hat das noch mehr ins Physische übersetzt." Bekannt ist eine Geschichte, die in Büchern der Gräfin d'Adhemar enthalten ist. Da wird gesagt, daß vor dem Ausbruch der Französischen Revolution die Gräfin d'Adhemar, eine Hofdame der Marie-Antoinette, den Besuch erhielt eines Grafen von Saint-Germain. Er wollte sich melden lassen bei der Königin und um Audienz bei dem König bitten. Der Minister Ludwig XVI. aber war der Feind des Grafen Saint-Germain. Er konnte daher nicht an den König herankommen. Der Königin hat er aber mit großer Schärfe und Genauigkeitgeschildert,wasfUrgroßeGefahrenbevorstehen,aberseineWarnungensind ja leider nicht beachtet worden. Er hat dazumal das große Wort gesprochen, das auf Wahrheit beruht: ' Wer Wind sät, der wird Sturrn ernten '.
Eine weitere Tragik des Grafen Saint-Germain liegt darin, daß wir von seinem weiteren Wirken so gut wie nichts wissen, mit Ausnahme des Tagebuches der Gräfin d'Adhemar. Hinzu kommt, daß dieses Tagebuch an manchen Stellen sehr fragwürdig ist, da die Gräfin in ihren Aufzeichnungen Dinge bringt, die sie erst nach der Wiedereinfüh rung des Königtums im Jahre 1815 hat wissen können. Man darf den Grafen Saint Germain allerdings nicht so verstehen, daß er den König und seine Familie warnen wollte, aus Frankreich zu fliehen, sondern er wollte verhindern, daß die späteren blutigen Ereignisse eintraten. Auch Ludwig XVI. hat eine Entwicklung verhindert. Er hätte sich an die Spitze der National versammlung stellen müssen, dies wäre auch das Ideal Mirabeaus gewesen.
Siegreiche idealgetragene Revolution mit zersplittertem Herzen
W.W.: Als am 21. und 22. September 1792 die Republik ausgerufen wurde, beginnt die zweite Phase der Revolution. Durch den Konflikt der Girondisten und Jakobiner innerhalb der Nationalversammlung gab es schon seit längerem keine Gemeinsamkeit mehr in der Nationalversammlung. Die einzige Gemeinsarnkeit aller war fast nur noch die Feindschaft zu den ausländischen Monarchien. Wie kam es zu den sich ständig steigemden blutigen Geschehnissen im Innern des Landes, zur Zeit als Danton bereits Ju stizminister war, also zum Beispiel die September-Morde 1792? War die neue Republik bereits so gefährdet, daß man überall Verräter witterte?
R. Riemeck: Die Antwort ist ganz einfach: Ja! Das hing damit zusammen, daß - genau wie bei anderen Revolutionen - nach einer gewissen Zeit der revolutionären Geschehnis se die Konterrevolution einsetzte und die Konterrevolution zusätzlich ein Kampf gegen Frankreich war. Die ausländischen Monarchien der angrenzenden Länder hatten eine kolossale militärische Übemmacht. In der Abwehr der äußeren Feinde entstand die Marseillaise "Allons enfants de lapatrie...", ein Lied, das zurNationalhymne wurde. Der Kampf gegen Frankreich war zugleich ein Kampf gegen die Revolution, das ging ineinander über. Für Robespierre - der ungeheuer tugendhaft war, entsetzlich tugendhaft sogar - war es unerträglich, wenn jemand im Kampf für Frankreich und gegen die Konterrevolution nicht sein höchstes Ideal sah. Gegen die geballte Macht der ausländi schen Monarchien vermischte sich das Nationale mit dem Revolutionären, und das führte eben bei Robespierre und seinen Mitstreitem zu den entsetzlichen Massakem im Innem des Landes, weil man überall Feinde Frankreichs und der Revolution witterte.
W.W.: Es scheint ein eigenartiger Widerspruch zu sein, wie während der zweiten Jahreshälfte 1793 Hunderttausende von Franzosen gegen die ausländischen Heere siegreich mit gemeinsamem Willen angehen, aber in Paris - der Zentrale, dem Herzen Frankreichs - die totale Zersplitterung, MiBtrauen, Haß, Schreckensherrschaft undTerror walten. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
R. Riemeck: Haß und Terror entstehen im wesentlichen unter den Führern der Revolution, eine Erscheinung, die wir auch in ähnlicher Weise bei anderen Revolutionen wiederfinden. Der Kampf untereinander beginnt, "die Revolution frißt ihre Kinder". Dieser Zersetzungskampf untereinander ereignet sich natürlich auch 1792/93bis 1795 in Paris. Nach Meinung der Revolutionäre verbindet sich die Konterrevolution von innen mit der Konterrevolution von außen, und so ist es in der Tat etwas höchst Rätselvolles, wie die Gemeinsamkeit der kämpfenden Franzosen die Übemmacht der äußeren Feinde siegreich abwehrt, während im Innem gleichzeitig die Guillotine arbeitet.
Dieses Bild muß man sich einmal vorstellen: Im Inneren werden die Menschen vemichtet, die auch nur um einen Hauch anders denken, während gleichzeitig die revolutionären Armeen Frankreichs mit heroischem Einsatz gegen die äußeren Feinde kämpfen und sterben. - Ähnliches vollzieht sich auch nach 1917 in der Sowjetunion. Durch die Interventionskriege der feindlichen Mächte konnte die bolschewistische Revolution überhaupt erst siegen.
Und so ist es ein Rätsel, wie trotz der Guillotine und dem Terror im Innem des Landes die Revolution nach außen hin demmaßen siegreich auftreten konnte. Das Rätsel löst sich allerdings auf, wenn man sich klar macht, wie der Gedanke der Nation den Menschen als Ideal vorschwebte: alle Menschen waren gleich, sie kämpften für die Nation. Die Revolutionsbegeisterung außerhalb Frankreichs, die vor der Terrorherrschaft vorhanden war, können wir heute kaum noch nachvollziehen. Alles, was denken konnte - vielleicht mit Ausnahme von Goethe, der die Geschehnisse mit größerer Ruhe betrachtete -, war für die Revolution begeistert: Es ist zum Beispiel schwer vorzustellen, daß Klopstock, Wieland, Schiller, Hegel, Schelling und Hölderlin enthuasiastische Revolutionsanhänger waren.
W.W.:Für kurze Zeit (1793-1794)herrschte der Wohlfahrtsausschuß im Konvent fast absolut, Robespierre und Danton hatten fast absolute Macht, aber sie basierte auf einer dünnen Decke von abstrakten Tugenden und Terror, reichte aber sogar aus, um äußere Feinde zu besiegen. Hätte diese Basis überhaupt länger währen können oder mußte der Gegenschlag (spätestens mit Napoleon) kommen?
R. Riemeck: Diese dünne Decke hätte kaum länger halten können, als sie hielt. Es ist nur so gewesen, daß während dieser Zeit die großen militärischen Aktionen der freiwil ligen französischen Armeen stattfanden - sie drangen bis ins Rheinland und nach Holland vor - und daß die Generäle und Offiziere dieser Heere alles Revolutionäre waren, einschließlich Napoleon. Man kann also das, was sich an Terror im Inneren von Paris abspielte, nicht auf die ganze französische Nation übertragen. Die Schreckensherrschaft war eine innere Angelegenheit von Paris und derjenigen Menschen, die aus der "Schule" von Robespierre karnen. Bei ihm und seinen Anhängem herrschte fast ein religiöser Fanatismus. Wer ihre Ideale nicht mittrug, war Gegner dermenschheitlichen Entwick lung und mußte ausgerottet werden. Dies ist ein Strang, der weit in der europäischen Religionsgeschichte zurückzuverfolgen ist, denn es war fast eine fanatische Glaubens kraft. Es fragt sich nur, wie weit solche Glaubenskraft von einem ganzen Volk getragen werden kann. Schon während in Paris die Schreckensherrschaft tobte, war es klar, daß sich Robespierre und seine Anhänger nicht lange würden halten können. Und es stand ja auch schon der bereit, der an seine Stelle getreten ist: Napoleon. Erstaunlich ist freilich, daß dieser noch während seiner ersten siegreichen Feldzüge die Briefe und Erlasse immer mit den Daten des Französischen Revolutionskalenders versah.
Der Haß auf die Unbestechlichkeit Robespierres
W.W.: Nun wird Robespierre immer als das Symbol des Schreckens dargestellt. Das dürfte aber reichlich überzeichnet sein. Vor seinem Tode, nachdem er selbst seine Feinde von links und rechts ausgeschaltet hatte, steht er selbst einer kollektiven Macht von Feinden gegenüber. Hat er sich durch seine Unbestechlichkeit und Hervorhebung der Tugendhaftigkeit so verhaßt gemacht?
R. Riemeck: Robespierre galt als "der Unbestechliche", und wer war denn in damaliger Zeit unbestechlich? Damit stand er allein auf weiter Flur. Er ist an seiner eigenen Tugendhaftigkeit zugrunde gegangen. Seine Tugendhaftigkeit war Gesetz. Natürlich kann man fragen, was diese Moral mit der Guillotine zu tun hatte. Aber es war eben so, daß der, der diese Moral nicht annahm, des Todes würdig war.
An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal an die Aussage Rudolf Steiners erinnem, daß während der Französischen Revolution und später erstmals Menschen als Menschen sprachen, und daß diese keineswegs immer die Inspirationen von guten Geistem bekamen. In diesem Rahmen muß man auch eine Gestalt wie Robespierre sehen. Er meinte, gut zu handeln. Er wollte den besseren Menschen aus der Masse herauskristal lisieren, und wer dies nicht anerkannte, war nicht wert, ein Mensch zu sein, wurde hin gerichtet und ausgelöscht. Je größer die Tugendhaftigkeit Robespierres wurde, desto dünner wurde sie: am Ende war sie wie eine Art Göttin. Aber selbstverständlich blieben alle Handlungen der Revolutionäre auf dieses eine Leben beschränkt, ohne realen Bezug zur geistigen Welt.
W.W.: Ist es ein allgemein-menschliches Charakteristikum, daß man immer denjeni gen besonders haßt, der konsequent nach den eigenen Idealen lebt, weil man ihn als Spiegel der eigenen Schwächen erlebt?
R. Riemeck: Ich denke, daß man dies so sehen kann; denn diejenigen, die die Guillotine selbst eingeführt haben, wurden gegen Ende der Revolution selbst Opfer dieses Werkzeuges. Eine große Anzahl von Menschen befand sich wie in einem Blu trausch. Noch drastischer haben wir es während des Nationalsozialismus erlebt, wo Menschen wahre Vemichtungsorgien vollzogen haben. Während der Jahre 1793 bis 1795 erleben wir deutlich, wie die Revolution in Terror umschlägt.
Mit der Perücke des von ihm bekämpften Jahrhunderts
schuf er die Ideen für ein neues Zeitalter
Robespierre lebte die großen Ideale selber vor, fast bis zur Selbstaufgabe. Wenn man sich nur vorstellt, wie er gelebt hat: ungeheuer bescheiden, aber dermaßen pedantisch, daß ich es mir kaum vorzustellen vemmag. Er trug immer noch Kniehosen und eine Perücke, während die Sansculotten bereits mit zerrissenen Kleidem, Kutten oder langen Hosen herumliefen. Robespierre kleidete sich wie ein Mensch aus dem ancien regime, das er bekämpfte. Aber er schuf die Ideen für ein neues Zeitalter. Da gibt es Widersprüche in ihm selbst! Eines hat er aber durchgehalten, der "Unbestechliche": immer nach der Wahrheit zu leben, eine saubere und ordentliche Lebensführung aufzuweisen, ohne Betrug zu leben und die Ehrlichkeit selber zu sein.
W.W.: Rudolf Steiner nennt in einem Vortrag über Goethe die Impulse, die Herder, Lessing, Schiller und Goethe durchströmten, dieselben wie sie Danton, Mirabeau und Robespierre durchglühten, nur daß sie sich bei den einen in das künstlerische Werk, bei den anderen in die Politik ergossen. Ähnliches hat er auch von Lenin und Trotzki gesagt. Rudolf Steiner schildert dies mit den folgenden Worten:
"Ich sagte, betrachtet man das Zeitalter, in das Goethe hineingeboren ist, so merkt man schon einen gewissen Zusammenklang zwischen der Individualität Goethes und diesem Zeitalter, und zwar diesem Zeitalter im weitesten Umkreise. Bedenken Sie, daß trotz aller großen Verschiedenheiten .. . doch etwas sehr Ähnliches in den beiden Geistem, in Goethe undSchillerist,umandere,wenigerBedeutendeumsieherumgarnichtzuerwähnen.Be denken Sie, wie vieles von dem, was wir gerade bei Goethe aufleuchten sehen, wir auch in Herder aufleuchten sehen. Aber man kann viel weiter gehen. Wenn man Goethe ansieht, tritt es vielleicht nicht gleich hervor; darauf wollen wir eben gleich zurückkommen. Aber wenn man Schiller ansieht, wenn man Herder ansieht, Lessing ansieht, so wird man sagen: Zwar ist ihr Leben anders geworden, aber in den Tendenzen, in den Impulsen lebt bei Goethe, bei Schiller, bei Herder, bei Lessing durchaus ein Stück Seelenanlage, durch die sie hätten unter anderen Verhältnissen ebenso gut ein Mirabeau, ein Danton werden können. Sie stimmen wirklich mit ihrem Zeitalter zusammen. Bei Schiller wird es sich ja gar nicht so schwer nachweisen lassen, denn Schillers Gesinnung wird niemand, insofemSchillerderDichterder'Räuber',des 'Fiesko',der'KabaleundLiebe'war,sehr weit abstechend sehen von der Gesinnung eines Mirabeau oder Danton oder selbst Robespierre. Nur daß Schiller dieselben Impulse, die Danton, Robespierre, Mirabeau in ihre politischen Tendenzen haben hineinfließen lassen, ins Literarische, ins Künstleri sche fließen ließ. Aber, man möchte sagen, in bezug auf das Seelenblut, das die Weltgeschichte durchpulst, fließt in den 'Räubem' genau dasselbe Seelenblut wie in den Taten Dantons, Mirabeaus und Robespierres, und es floß dieses selbe Seelenblut aber auch in Goethe, wenn man auch zunächst sich vorstellen möchte, daß Goethe recht, recht weit von einem Revolutionär entfemt ist. Das ist er aber gar nicht, das ist er durchaus nicht.
Können wir daraus lemen, daß man einen Menschen nicht zu einseitig in bezug auf seine Taten bewerten sollte, sondem mindestens genauso nach den Impulsen und Idealen fragen muß, die ihn bewegen?
R. Riemeck: Auf jeden Fall! Sehen Sie, in dem Moment, in dem ein Mensch seine Ideale in politischer Tätigkeit auslebt, geht vieles von diesen Idealen verloren. Die Französische Revolution ist dafür ein grandioses Beispiel. Die Ideale gehen deswegen verloren, weil sich alles auf die politische Macht verengt; soziale Impulse sind sehr viel schwieriger durchzusetzen als Machtinteressen. Auch die künstlerischen Impulse bleiben auf der Strecke. Kennen Sie einen großen Staatsmann, der gleichzeitig ein großer Künstler war? Vielleicht gibt es welche, aber mir fällt niemand ein.
Das christliche Element im Leben Jean-Paul Marats
W.W.: Wenn man sich eine Person wie Jean-Paul Marat anschaut, so hatte er als Anhänger der Jakobiner die besten Impulse und Ideale, lebte theoretisch und praktisch für und mit den Armen und wurde ja auch bis zu seiner Ermordung von den Massen geliebt. Wie erklären Sie sich - exemplarisch an dieser Person - wie ein so idealgeprägter Mensch letztendlich bei den Grausamkeiten mitmacht?
R. Riemeck: Marat ist nur richtig zu betrachten, wenn man seine ersten Impulse bedenkt. Er war Mediziner, ein Arzt für die Armen. Er hatte in seinem ganzen Leben ein christliches Element in sich, was ich besonders betonen möchte. Das zeichnete ihn vor den anderen Revolutionären aus. Natürlich ging es ihm auch im Verlauf derrevolutionä ren Ereignisse um handfeste politische Realitäten, die auf jeden Fall durchgesetzt werden sollten. Es ist schwierig, sich vorzustellen, wie sich Marat verhalten hätte, würde er zur Guillotine gebracht worden sein. Aber er wurde ja bekanntlich heimtückisch emmordet. Marat hatte größere Weitsicht als die meisten anderen Revolutionäre. Er hatte England besucht und kannte sich in der Welt ein wenig mehr aus. Was man nicht vergessen darf, ist, daß er ein stark auf das Heilen gerichtetes Moment in seinem Leben besaß. Nach Ansicht Marats sollte die Welt geheilt werden, für Robespierre dagegen sollte sie tugendhaft werden. Das ist ein großer Unterschied! Für mich ist Jean-Paul Marat der sympathischste Revolutionär. Aber auch er erlag dem "Blutrausch". Von einem gewissen Punkt an waren sie alle nur noch darauf bedacht, die Feinde der Revolution auszulöschen. Das hat dazu geführt, daß man die Revolution, die so viele positive Ansätze besaß - und bis heute noch besitzt - verurteilt hat. Unsere ganze deutsche nationalistische Geschichtsforschung und -schreibung läuft ja darauf hinaus, 1789 zu verurteilen. Doch ohne die Revolution gäbe es nicht die Emanzipation der Persönlichkeit, wie Rudolf Steiner sich ausgedrückt hat.
W.W.: Ist es ein Problem der Französischen Revolution und ihrer Revolutionäre, daß ihre richtigen und fortschrittlichen Ideale noch zu abstrakt in ihren Vorstellungen lebten, ohne eine Ver virklichungsmöglichkeit in einem sozialen Organismus zu haben? R. Riemeck: Wenn Sie meinen, daß die Revolutionäre für die Ideale, die sie zu verwirklichen hofften, kein Gefäß im sozialen Organismus gefunden haben, so ist das richtig. Dafür war es noch zu früh. Und das konnte nur dazu führen, daß sie die Verwirk lichung ihrer großen Ideale als Zwang betrachteten, der unbedingt - auch mit den grausamsten Mitteln - durchgesetzt werden mußte.
Brüderlichkeit oder der Kampf aller gegen alle
W.W.: Indem Band"Geschichtliche Symptomatologie" (GA 185) sagt Rudolf Steiner über die drei Ideale der Französischen Revolution, daß sie abstrakt im Raume ständen, in Wirklichkeit aber auf verschiedene Gebiete angewandt werden müßten: die Brüderlich keit auf das Leibliche, das Zusammenleben in einem konkreten sozialen Organismus; die Freiheit auf die Seele und die Gleichheit in bezug auf den Geist. Können Sie das ein wenig erläutern?
R. Riemeck: Rudolf Steiner setzt in diesem Vortrag die Gleichheit und die Freiheit anders an, als er es später getan hat; später bezog Rudolf Steiner die Freiheit auf das Geistesleben, die Gleichheit auf das Rechtsleben, die Brüderlichkeit auf das Wirtschafts leben. In dem Vortrag aus der "Geschichtlichen Symptomatologie", den Sie soeben angeführt haben, sagt Rudolf Steiner etwas, was einem auch in anthroposophischen Zusammenhängen sehr zu denken geben müßte: Er spricht darüber, daß Gleichheit und Freiheit sich durchaus venvirklichen könnten, aber daß die Verwirklichung der Brüderlichkeit eine Zukunftsaufgabe sei und er führt aus, daß dann, wenn die Brüderlichkeit bis zum Ende des 5. nachatlantischen Zeitraumes nicht bis zu einem hohen Grade verwirk licht wird, ein großes Unglück und ein Zurückwerfen in der Geschichte die Folge sei (S.39). Das heißt mit anderen Worten, an dem dritten Ideal der Französischen Revolution, der Brüderlichkeit, entscheidet sich das Schicksal der Menschheit in den nächsten Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Ich möchte behaupten, daß Brüderlichkeit immer schwerer als Gleichheit und Freiheit durchzusetzen ist. Die Freiheit darf man nicht nur als eine "Freiheit von etwas" verstehen, denn das wurde auch während der Französischen Revolution schon verwirk licht, sondem als eine "Freiheitfür etwas", und dies ist eine Aufgabe, die bis heute noch nicht verwirklicht ist. Auch Gleichheit ist noch nicht erfüllt, wenn sie auf dem Papier steht.
Die Brüderlichkeit dagegen soll im sozialen und wirtschaftlichen Leben durchgesetzt werden, was oft nur durch persönlichen Verzicht zu erreichen wäre. Auf die Wohlstands gesellschaft müßte man verzichten, wenn wir die Brüderlichkeit im Weltmaßstab durch führen wollten. Wenn wir die Brüderlichkeit nicht im Weltmaßstabe durchsetzen und den Millionen von hungernden Menschen nicht von dem abgeben, was wir haben, dann befinden wir uns auf dem Wege zu dem großen Unglück, auf welches Rudolf Steiner bei Nichtdurchsetzung der Brüderlichkeit hinweist, denn man sollte nicht glauben, wir hätten noch sehr viel Zeit bis zum Ende des 5. nachatlantischen Zeitraumes. Die Zeiten verkürzen sich rasant.
Auch der Kampf aller gegen alle hat bereits begonnen. Schauen Sie auf irgendeinen beliebigen Ort der Erde, und Sie werden feststellen, daß wir uns bereits mitten in diesem Kampf befinden. Nehmen Sie den Krieg in Afghanistan: Die Russen sind gerade abgezogen, und nun streiten sich die Mudschaheddin untereinander, und zwar um das Wahre und Gute. Ob sie sich auch um das Schöne streiten, weiß ich nicht. Das Gefühl dieses Kampfes aller gegen alle, welchen Rudolf Steiner vorausgesagt hat, sitzt uns schon heute irgendwie im Nacken. Oftmals bemerken wir es gar nicht mehr, auch in unseren eigenen Reihen nicht, und das Gefühl für das Gemeinsame verschwindet. Das Gemein same ist immer ein Verzicht und Verlust an individueller Macht, an individuellem Reichtum und an eigenem Wohlbefinden.
Brüderlichkeit bleibt also ein Zukunftsideal und bedeutet zum Beispiel, daB ich zustimmen muB, wenn heute ein Mensch aus der Dritten Welt zu mir kommt und behauptet, daß der gesamte Wohlstand der westlichen Welt halbiert werden müsse, damit die Hungernden satter werden. Robespierre hätte uns dazu sicher zwingen wollen - mit Gewalt, wenn er das für richtig erkannt hätte. Das Ausüben der Tugend mit Gewalt, das ist es, was als Schreckliches während der Französischen Revoludon gewaltet hat.
W.W.: Das sind ja ähnliche Motive wie diejenigen der meisten Dominikaner zur Zeit der Inquisition.
R. Riemeck: Ja, genau. Es gehört für mich zu den Merkwürdigkeiten der Französi schen Revolution, daß die großen Revolutionäre im Dominikaner- und Franziskaner Kloster getagt haben und sogar ihre Namen dadurch erhielten. Der Name der Jakobiner kommt von dem Jakobus-Kloster, in dem früher Dominikaner gelebt haben. Dort, wo diese einst über die Inquisition befanden, tagten nach 1789 die Jakobiner. Marat und die Cordeliers tagten dagegen im Franziskaner-Kloster, sie waren nicht ganz so radikal wie die Jakobiner.
W.W.: Und Ludwig XVI. wird im Temple als Gefangener festgesetzt, dem Zentrum der Templer in Paris, die vom französischen König Philipp dem Schönen im 14. Jahrhundert ausgerottet wurden.
R. Riemeck: Sie haben mich zu Beginn des Interviews nach Kräften und Mächten gefragt, die in das geschichtliche Wirken eingegriffen haben: In Frankreich muß man meines Erachtens weniger von dem Wirken der Rosenkreuzer als vielmehr von dem der Templer sprechen.
In Frankreich muß man von Philipp dem Schönen und seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Templer ausgehen. Ich würde immer die Templer im Zusammenhang mit der französischen Geschichte sehen, genauso wie die Rosenkreuzer im Zusammenhang mit der mitteleuropäischen Geschichte. Beide Gruppierungen hatten große Aufgaben, die durch Ereignisse von außen abgebrochen wurden, und zwar durch ungute okkulte Mächte. Es ist schon erstaunlich, daß der französische König vor seiner Guilliotinierung im Temple gefangen saß, in dem Gebäude des Ordens, den einer seiner Vorgänger ausgerottet hatte.
W.W.: Welche Bedeutung hat die Französische Revolution für uns Menschen heute, was können wir 200 Jahre später aus dieser tumultuarischen Entwicklung lernen und für die Zukunft anwenden, und was hat die Französische Revolution für die übrige Welt gebracht?
R. Riemeck: Es gibt keine spätere Revolution, die nicht von 1789 beeinflußt worden ist. Da sind zum Beispiel die deutschen Revolutionen von 1848 und 1918. Die Ideale der Französischen Revolution lebten weiter, und als solche haben sie bei jeder anderen Revolution - einschließlich der bolschewistischen Oktober-Revolution - mit hineinge spielt.
Auch in unserer Verfassung, die sich Grundgesetz nennt, hat das, was während der Französischen Revolution als Ideal betrachtet worden ist, Eingang gefunden: die Gleich heit und Freiheit aller Menschen, das Recht auf freie Meinungsäußerung usw. Diese Ideale reichen bis in unsere heutige Zeit hinein als etwas, was man nicht mehr aus dem Leben und Zusammenleben der Menschen hinaustreiben kann. Hier lebt das revolutionäre Element der Französischen Revolution im positiven Sinne weiter.