Forschungsstelle Für Gestaltung
Tugend und Terror

[ Die Franzˆsische Revolution und die Folgen ]

INTERVIEW MIT PROF. DR. RENATE RIEMECK

von Wolfgang Weirauch

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Renate Riemeck: geboren in Breslau, aufgewachsen in Schlesien und Pommern, Abitur in Stettin bei Kriegsausbruch 1939, Studium der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte in M¸nchen und Jena,1943 Promotion, Dozentin an der P‰dagogischen Hochschule Oldenburg (i.O.), Professorin an der Kant-Hochschule Braunschweig und bis 1960 in der Lehrerbildung an verschiedenen Hochschulen t‰tig. Wegen politischer Differenzen mit dem Kultusministerium in Dusseldorf aus dem Staatsdienst l 960 ausge schieden. Seither als freie Schriftstellerin lebend. Verˆffentlichungen: Mitteleuropa - Bilanz eines Jahrhunderts (Erstausgabe Freiburg 1964, sp‰ter auch als Fischer-Taschenbuch); Jan Hus (3. Auflage, Basel 1988); Come nius (Basel 1978); Moskau und der Vatikan (3. Auflage, Basel 1988); Glaube, Dogma, Macht (Stuttgart 1985); Verstoþen, verfemt, verbrannt (Stuttgart 1986); 1789, Heroischer Aufbruch und Herrschaft des Schreckens (Stuttgart 1988).

In diesem Jahr (1989) feiern vir den 200. Jahrestag der Franzˆsischen Revolution. Die Franzˆsische Revolution ersch¸tterte die ganze Welt- und Menschheitsgeschichte, begann als b¸rgerliche Revolution und endete im Terror, aber sie gilt noch heute als die Groþe Revolution, da sie durch individuelle Menschen Ideale in unsere Menschengemeinschaft stellte, die noch lange nicht verwirklicht sind und somit Zukunftsbedeutung besitzen. In der Franzˆsischen Revolution, so formulierte es Rudolf Steiner, sprachen zum ersten Male Menschen als Menschen. Und diese Menschen waren mit den Idealen, die sie politisch und weltgeschichtlich durchsetzen wollten, bei weitem ¸berfordert. Sie standen umfassend in der Situation, in der heute mehr oder weniger jeder Politiker steht: Wie setze ich meine Ideale - wenn ich sie nicht ganz verliere - in politische Wirklichkeit um, ohne sie durch Machtinteressen und Parteizw‰nge korrumpieren zu lassen? Wie bleibe ich meinen Idealen treu, so daþ ich noch vor mir selbst bestehen kann?

Aber steht nicht jeder Mensch - in seinem Lebensfeld - in der gleichen Situation? Man bringt sich Ideale, Impulse, Vors‰tze aus der geistigen Welt in dieses menschliche Erdenleben mit, in den Kindheitsjahren leben diese Kr‰fte unbewuþt in einem, bis sie nach und nach in das eigene Bewuþtsein treten. Man ergreift eine Idee, verbindet sie mit den eigenen Impulsen und erhebt diese Idee zu dem eigenen Ideal, dem man ein Leben lang treu bleiben mˆchte. Ideale bringen etwas in unsere sinnliche Welt, was dieser nicht angehˆrt: "Die Idealisten tragen in unsere sinnliche Wirklichkeit etwas hinein, was wertvoll ist: die Ideale, nach denen sich der Mensch richtet, die nicht derbe, materielle Wirklichkeit haben, und die nur der grobe Materialist eben nicht gelten l‰þt. Nun sind diese Ideale aber zu gleicher Zeit etwas ungeheuer Wertvolles im diesseitigen Leben, die Ideale sind das, was die Richtungsimpulse f¸r unser Leben gibt, sie sind das, was wir begehren, damit wir uns daran halten kˆnnen. In gewisser Beziehung machen diese Ideale das Leben wertvoll, indem sich der Mensch nach ihnen richtet.

"Ein Mensch ohne Ideal ist ein Mensch ohne Energie. Das Ideal spielt im Leben dieselbe Rolle wie der Dampf in der Maschine." (Rudolf Steiner: Kosmogonie. GA 94, Dornach 1979, S.23). Nur wenige Menschen haben diesen "Dampf" und nur wenigen gelingt es, dieses innere Feuer der selbsterrungenen und selbsterlebten Ideale ein Leben lang durchzutra gen. Meist verflachen die Ideale wieder wahrend der Anforderungen des Lebens, man wird ihnen untreu und versucht zu verdr‰ngen, was man einstmals gewollt hat, f¸r das man einstmals als gl¸hender Verfechter eingetreten ist, oder man beh‰lt seine Ideale bei wie Robespierre - unersch¸tterlich, unerbittlich -, aber ger‰t durch die Zeitumst‰nde und die politischen Verh‰ltnisse in eine von der Wirklichkeit sich abhebende Situation, zu der sich die Ideale nur noch in einem verzerrten Verh‰ltnis ausnehmen. Aber ist die Folge und Konsequenz eines Ideals, wenn es in verzerrter Weise auftritt, auch noch so schrecklich, der Urkeim, der Antrieb ist eine Ich-Kraft, ein Ideal. Und das sollte man nie vergessen, weder bei Robespierre, Danton oder Marat noch bei allen anderen Menschen.

Wir haben dieses Interview an den Anfang des vorliegenden Heftes gestellt, weil man an den Vorg‰ngen der Franzˆsischen Revolution, den Ideen und Verfassungen, die w‰hrend dieser Zeit aufgetreten sind, sowie den Menschen, die um diese zuk¸nftigen Ideale gerungen haben, beispielhaft erkennen kann, wie weltgeschichtlich bedeutsame Ideale in ihrer lichtvollen und schattenhaften Ausgestaltung in die Menschheitsentwick lung eingetreten sind. Dies kann f¸r uns ein weiterer Impuls sein, als m¸ndige B¸rger der heutigen Zeit f¸r die eigenen Rechte und Ideale einzutreten.

 

Wolfgang Weirauch: Nach Karl Marx ist eine Revolution eine "ruckartige Nachho lung einer verhinderten Entwicklung"; dies ist nat¸rlich nicht die Sichtweise aller, schon gar nicht von konservativen Historikem, die wohl eher nach dem Motto "M‰nner machen Geschichte" urteilen w¸rden. Kˆnnen Sie einen Begriff der Revolution geben?

Prof. Dr. Renate Riemeck: F¸r mich gibt es keinen besseren Begriff f¸r eine Revolution als die Worte Karl Marx', also eine "ruckartige Nachholung einer verhinder ten Entwicklung", d.h. es ist eine Evolution verhindert worden. Und das war vor der Fran zˆsischen Revolution eindeutig der Fall.

Stellen Sie sich die Situation Frankreichs vor der Groþen Revolution vor: Der Kˆnig beruft 1789 eine Versammlung der drei St‰nde ein; diese drei St‰nde - geistlicher Adel, weltlicher Adel, B¸rgertum - waren seit der Zeit Ludwig XIV. nicht mehr einberufen worden; vorher geschah dies unter anderem daf¸r, um dem Kˆnig die Mittel f¸r einen Krieg zu bewilligen. Vor der Revolution waren die Staatseinnahmen so knapp, daþ der Staatsbankrott bevorstand. Um das zu verhindern, berief der Kˆnig - von seinen Beratern schlecht beraten - die St‰nde nach mehr als 170 Jahren wiederum ein. Damit beginnt im Grunde die Revolution. Tatsache war, daþ man eine Entwicklung verhindert hat. Man hat die ganze Zeit ¸ber so getan, als g‰be es kein best‰ndig wachsendes B¸rgertum und ¸bersah, daþ die Philosophie der Aufkl‰rung schon gewirkt und sich Gedanken entwickelt hatten, wie ein Staat regiert werden kˆnnte. Von diesen Gedanken nahmen die beiden oberen Schichten ¸berhaupt keine Kenntnis, aber nun plˆtzlich, wo das Geld wegen der Kriege ausgegangen war, nahm man wieder von dem B¸rgertum Notiz. Und so setzte eben das ein, was Karl Marx die "ruckartige Nachholung einer verhinderten Entwicklung" nennt.

W.W.: Was hat die Franzˆsische Revolution gebracht, wenn man nach 200 Jahren auf sie zur¸ckschaut? War es eine Zeit, in der hohe Ideale innerhalb von f¸nf Jahren im Terror endeten, die bis heute kaum verwirklicht wurden und die geschichtlich versiegt sind wenn man nur daran denkt, daþ Frankreich die europ‰ische Macht ist, die die letzten Kolonialkriege f¸hrte (Algerien, Vietnam), das Frauenwahlrecht erst 1944 eingef¸hrt und die Todesstrafe erst 1981 abgeschafft hat -, oder haben die Franzˆsische Revolution und ihre Ideale etwas in der Menschheitsgeschichte veranlagt, was seine positiven Wirkungen gezeigt hat und noch zeigen wird?

R. Riemeck: Geschichtlich versiegt sind die Ideale der Franzˆsischen Revolution sicherlich nicht, auch wenn sich diese Ideale niemals durchgesetzt haben. Von Freiheit undGleichheithatmansofortgeredet,zumBeispielinderVerfassungvonl791.Undman meinte damit, daþ alle Menschen frei und gleich geboren w‰ren; so steht es auch in der Pr‰ambel dieser Verfassung. Von "Gleichheit" allerdings konnte ¸berhaupt keine Rede sein, denn es durften nur diejenigen w‰hlen, die von den Finanzbehˆrden mit einem bestimmten Steuersatz eingestuft waren. Gleiche und freie Wahlen gab es also nicht. Die Gleichheit bezog sich nur auf das Gesetz.

In der amerikanischen Unabh‰ngigkeitserkl‰rung von 1776 werden alle Menschen f¸r frei und gleich geboren erkl‰rt. Trotzdem haben solche "freien und gleichen Menschen" die Indianer umgebracht. Die Franzosen haben alle B¸rger, die unter eine bestimmte Steuergrenze fielen, von den Wahlen ausgeschlossen (1791).

Die Br¸derlichkeit war in keiner Verfassung enthalten. Sie wurde nur von der Bevˆlkerung von Paris an die W‰nde geschrieben. Ich habe mir viele Gedanken dar¸ber gemacht, warum das geschah und denke, daþ es daf¸r nur eine Erkl‰rung gibt: Von Freiheit, Gleichheit und Br¸derlichkeit haben immer die Freimaurer gesprochen. In den Logen waren in der Tat alle Menschen gleich, der B¸rger war dem F¸rsten gleich. Man duzte sich sogar in diesen Logen. Wie die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Br¸derlichkeit, die in den Logen ge¸bt wurden, allerdings an die Hausw‰nde gekommen sind, dar¸ber kann man nur Vemmutungen anstellen. Selbst unter den Revolutionsf¸hrem blieb die Br¸derlichkeit grunds‰tzlich ein unerf¸lltes Ideal. Und das ist bis heute so geblieben.


Die Situation vor der Revolution

W.W.: Im Glauben, England zu sch‰digen, unterst¸tzte Ludwig XVI. die Freiheits k‰mpfer im amerikanischen Unabh‰ngigkeitskrieg (1775-1782); war dies nicht ein gewaltiger Fehler aus der Sicht eines absoluten Herrschers? Kam er nicht auf die Idee, daþ das Volk Frankreichs die Menschenrechte auch f¸r sich beanspruchen w¸rde?

R. Riemeck: Der Unabh‰ngigkeitskrieg ist vor allem mit Hilfe einzelner Persˆnlich keiten wie La Fayette, der auf seiten der Aufst‰ndigen k‰mpfte, gef¸hrt worden. La Fayette ist es ja auch, der die Menschenrechte der amerikanischen Unabh‰ngigkeitserkl‰ rung nach Frankreich gebracht und diese sp‰ter in der Nationalversammlung durchge setzt hat.

W.W.: Das alte Treue- und Schutzverh‰ltnis zwischen Bauern und ihren sogenannten Herren bestand schon seit langem nicht mehr; wie war die wirtschaftliche und rechtliche Situation der Bauern vor der Franzˆsischen Revolution?

R. Riemeck: Dieses Treueverh‰ltnis gab es l‰ngst nicht mehr. In der Zeit vor der Franzˆsischen Revolution durchlitten die Bauern, die unterste Schicht, das ƒrgste, was ¸berhaupt zu ertragen war. Die Bauern hatten nichts zu sagen, sondern nur daf¸r zu sor gen, daþ ihre Grundherren Getreidereichtum und Abgaben dazu benutzten, um bei dem Hof des Kˆnigs in Frankreich zu leben. Die Bauern waren rechtlos.

W.W.: Eines der grˆþten Probleme der Masse der Bevˆlkerung waren die steigenden Brotpreise, die oft bis zu 80 % des Familienhaushaltes ausmachten. Auch die Mieten zwangen die Menschen h‰ufig zum Umzug. Zwar gab es mehrfach Brotaufst‰nde, aber die meiste Zeit der Bauern verging notgedrungen damit, f¸r den t‰glichen Unterhalt zu sorgen. Kˆnnen wir festmachen, daþ die Bauern - obwohl in extremster Notlage ¸berhaupt nicht daran dachten bzw. bef‰higt waren, eine Revolution zu entfachen?

R. Riemeck: Ja, die Bauern waren keinesfalls Tr‰ger der Revolution, sie tauchten bei Beginn der Revolution kaum auf und k‰mpften in sp‰teren Jahren sogar in gewissen Gebieten Frankreichs gegen die Revolution. Tr‰ger derRevolution war das B¸rgertum in den St‰dten. Dieses B¸rgertum war gebildet; es waren Intellektuelle. Es ist ohnehin so, daþ bei den meisten Revolutionen die Intellektuellen eine sehr groþe Rolle innehaben, auch wenn diese Tatsache in vielen Revolutionstheorien keine Rolle spielt.

Die Revolution von 1789 ist im Grunde von Adligen, zum Beispiel Mirabeau und La Fayette, entfacht worden. Diese Aristokraten sind gegen ihren eigenen Stand vorgegangen. Sie waren zusammen mit dem B¸rgertum die Tr‰ger der Revolution und ihre Gedanken fanden sp‰ter Eingang in die Verfassung. Das B¸rgertum hatte aber schon vor 1789 alle Gedanken ausgesprochen, die sp‰ter Gedankengut der Revolution wurden. An dieser Stelle m¸þte man Montesquieu nennen, der ¸ber die Gewaltenteilung geschrieben hat, sowie Rousseau, der davon ausging, daþ zwischen dem Herrscher und dem Unterta nen ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag maþgebend sei. Im franzˆsischen B¸rger tum bereitete sich die Umw‰lzung vor, so daþ man sagen kann: die Franzˆsische Revolution war eine b¸rgerliche Revolution!

W.W.: Wer gehˆrte genau zur Bourgoisie dazu? Wie war die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Bourgoisie vor der Revolution?

R. Riemeck: Die Bourgoisie Frankreichs geriet besonders durch das Manufakturwe sen in eine vorindustrielle Situation und war sehr wohlhabend geworden. Sie allein konnte die Steuern aufbringen, im Gegensatz zu dem verelendeten Bauerntum, das nicht mehr gen¸gend Gelder herbeischaffen konnte, damit der Adel an seinen Positionen festhalten konnte. Das B¸rgertum war allerdings nicht nur wohlhabend, sondern auch kritisch, es las philosophische Schriften. Vor allem die Advokaten spielten bei der Revolution die entscheidende Rolle.

Es f‰llt auf, daþ sich bei den meisten Revolutionen eine Bildungsschicht zum Sprecher derjenigen Schicht macht, die unter ihr steht. In der Franzˆsischen Revolution waren es vor allem die Aristokraten (Mirabeau, La Fayette), die sich zum Sprecher der Bourgoisie machten. In der Russischen Revolution von 1917 waren es die B¸rger, die sich zum Sprecher der Proletarier machten. Lenin und Trotzki und viele andere waren schlieþlich b¸rgerliche Leute. Sie artikulierten, was die anderen dachten: Mirabeau sprach aus, was die B¸rger dachten, Lenin sprach aus, was die Arbeiter dachten.

W.W.: Auch derAdel und die Geistlichkeit, der erste und zweite Stand, gerieten durch Ludwig XVI. in eine neue Abh‰ngigkeitssituation. Wie war es vorher, und was ‰nderte sich durch Ludwig XVI.?

R Riemeck: Da m¸ssen wir weit in die Geschichte zur¸ckgreifen. Der geistliche Adel und der weltliche Adel waren die wichtigsten Pfeiler in jedem Staatsgebilde vor der Revolution, nicht nur in Frankreich, sondern ¸berall. Dies war genauso in den deutschen Staaten, wo es in den einzelnen Landtagen zum Ausdruck kam. Der weltliche Adel geriet in der Zeit vor der Franzˆsischen Revolution in eine sehr schwierige Situation, weil er zum Hofadel degradiert worden war und nicht mehr mitsprechen konnte. Bis 1614 hatten der weltliche Adel, der geistliche Adel und das B¸r gertum ein Mitspracherecht. Anschlieþend begann mit Ludwig XIV. der Absolutismus: "Ich bin der Staat". Das ging mehr schlecht als recht bis ins 18. Jahrhundert hinein, aber zunehmend wurde die Situation unertr‰glich. Auþerdem waren die Kˆnige mit ihren Kriegen, wie Sie vorhin schon erwAhnten, nicht sehr erfolgreich, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Rudolf Steiner spricht immer von diesen Kˆnigen als von "Ludwig XIV. usw.". Mit "usw." sind die nachfolgenden Kˆnige gemeint, und mehr als "usw." waren sie auch nicht.