Einheit in Verschiedenheit – Das Ferienlagerprojekt aus der Sicht eines Rumänienungarn
In diesem Sommer beteiligte ich mich zum wiederholten Male an einem Kinderferienlager der Dresdner Rumänien-Initiative. Ich gehöre zur ungarischen Minderheit in Rumänien und stamme aus der Nähe von Braşov/Kronstadt, studiere aber derzeit in Leipzig. Im Folgenden möchte ich berichten, wie ich das diesjährige Kinderferienlager und die dort entstandenen zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt habe.
Vorbereitung und Durchführung des Sommerferienlagers
Bei
einem so großen Kinder- und Jugendprojekt findet zuerst ein
Vorbereitungstreffen statt, auf dem das Programm für das Ferienlager
erstellt wird und die verschiedenen Aufgaben im Blick auf die
Vorfeldarbeit zwischen den Mitarbeitern besprochen und verteilt
werden. Zu den dringenden und wichtigen Aufgaben gehören am Anfang
der Antrag zur Genehmigung des Ferienlagers beim rumänischen
Jugendamt – wobei eine Absprache auch mit den betreffenden Heimen
stattfinden muss – und der Einkauf von Lebensmitteln, Spiel- und
Bastelmaterialien, Medikamenten und Geschenken sowie die Organisation
der Reise und der Unterkunft in Rumänien, aber auch die Reservierung
der Räumlichkeiten für das Ferienlager.
Da Rumänisch neben Ungarisch meine zweite Muttersprache ist, war ich in erster Linie bei der Antragstellung und Unterkunftsorganisation einbezogen. Nach der langen Reise nach Rumänien galt es dann, bei den örtlichen Kinderheimen die notwendigen Vorbereitungen und konkreten Termine zu besprechen und die Kinder, die an den Ferienlagern teilnehmen sollten, auszuwählen. Schließlich war jeweils eine Gruppe von elf Kindern aus den Heimen in Mediaş/ Mediasch und Agârbiciu/ Arbegen zusammengestellt. Nachdem auch in Rumänien einige Einkäufe erledigt, die Autos gepackt, die Zugverbindungen ausgesucht und die Fahrkarten gekauft waren, konnten wir zum Ort des Ferienlagers, nach Seliştat/Seligstadt, fahren.
Unser gemischtes Team, das aus 22 behinderten und nichtbehinderten Kindern, Roma- und rumänischen Kindern, zwei Heimerziehern, vier einheimischen Jugendlichen aus der Fogarascher Kirchengemeinde und zehn deutschen und rumänischen Betreuern bestand, kam sich am ersten Abend durch Kennenlernspiele näher. Da ich selbst auch einige Spiele leitete, merkte ich, wie schwierig es ist, eine so große und bunte Gruppe, die verschiedene Bedürfnisse hat, zusammenzubringen und -zuhalten. Der erste und letzte Abend sind eigentlich die einzigen Gelegenheiten, an denen alle gemeinsam zusammen sind, denn ansonsten werden die Aktivitäten immer in kleineren Gruppen durchgeführt.
Gewonnene Erfahrungen und Eindrücke
Die Vorfeldarbeit ist vielleicht der anspruchsvollste Teil eines solchen Projekts. Dabei ist ein komplexes Aufgabenfeld zu berücksichtigen. Die große Herausforderung besteht darin, bei der inhaltlichen Planung des Ferienlagerprogramms die Verschiedenheit und das unterschiedliche Potential der Kinder und Jugendlichen im Auge zu behalten. Die große Spanne zwischen den Altersgruppen der Ferienlagergruppe (6-18 Jahre) sowie die Möglichkeiten der Kinder verlangen gut bedachte und gut vorbereitete, individuell zugeschnittene Aktivitäten, Spiele und Aufgaben. Sonst kann es schnell passieren, dass die größeren Kinder sich langweilen oder es sogar unangenehm finden, bei bestimmten Aktivitäten mitzumachen, während die Kleineren und Schwächeren sich vielleicht nicht in der Lage sehen, sich anzuschließen, so dass es für sie unverständlich und uninteressant wird. Das, was hier im Blick auf das individuelle Eingehen auf die Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen gesagt wird, gilt auch für die erwachsenen Mitarbeiter. Bei der Verteilung der Arbeiten in der Vorbereitungsphase wird Rücksicht genommen auf die Empfindlichkeiten und Schwächen der Einzelnen und versucht, für jeden in der Gruppe – nach seinen Gaben und Talenten – die passenden Aufgaben zu finden.
Im Blick auf die Organisation gilt es, rechtzeitig die nötigen Absprachen zu treffen und die schriftlichen Unterlagen bei den Behörden einzureichen. Denn es gibt immer wieder neue, unbedachte und ganz unerwartete Schwierigkeiten, welche schnelle Reaktionen, Schlagfertigkeit, manchmal auch ein geschicktes Vorgehen fordern.
Sobald
das Ferienlager beginnt, wird von jedem Mitarbeiter eine betont
praktische Einstellung verlangt. All das, was bisher ein
theoretischer Plan war, muss jetzt in die Wirklichkeit umgesetzt
werden. Es ist keine leichte Aufgabe, aber im Rückblick kann ich
sagen, dass es trotzdem eine sehr dankbare und erfreuliche ist. Damit
diese Aufgabe möglichst gut erfüllt werden kann, fand jeden Abend
eine Dienstbesprechung unter den Mitarbeitern statt. Dabei konnte ich
beobachten, wie die speziellen Interessen der Einzelnen der
jeweiligen Persönlichkeit entsprachen und wie sich jeder je nach
Gaben und Stärken in den jeweils geeigneten spezifischen Bereichen
engagierte. Selbstverständlich war es bei mir auch nicht anders. Mir
haben besonders die individuelle Begleitung der eher schwächeren
Kinder, die Organisation und Aufführung des Theaterstücks,
verschiedene Spiele und Aktivitäten sowie die Lösung von
administrativen Fragen Spaß gemacht. Das, was mich größere
Überwindung gekostet hat, war die Teilnahme an den
Sportveranstaltungen, da ich in diesem Bereich eher ungeschickt bin
und es schwer zu akzeptieren ist, wenn manchmal die Kinder dabei viel
besser sind.
Im Ferienlager haben die Kinder oft solche Erfolgserlebnisse, die sie sonst nicht sammeln können. Speziell beim Basteln und Anfertigen verschiedener Objekte ist zum Beispiel ihre Fingerfertigkeit gefragt. Sie erfahren dabei, dass sie selbst auch in der Lage sind, schöne Dinge herzustellen. Dadurch wird ihr Selbstvertrauen gestärkt und auch eine gewisse Selbstkenntnis ermöglicht, indem sie feststellen können, dass ihnen vieles Spaß macht, während andere Sachen sie nicht so sehr freuen. Diese Freude über die eigene Herstellung und Gestaltung von Kerzen, T-Shirts, Fotocollagen und anderen Dingen hört nicht mit dem Ende des Ferienlagers auf, denn die Kinder nehmen diese Sachen mit in die Heime und können sie mit Stolz ihren Schulkollegen zeigen.
Darüber
hinaus kann man sagen, dass diese integrativen Kinderfreizeiten ein
Komplex menschlicher Beziehungen auf mehreren Ebenen sind. Einerseits
sind es die Beziehungen zwischen den Kindern aus ein und demselben
Heim. Da im Ferienlager der Einfluss der Heimhierarchie nicht so
stark ist und Werte wie Verständnis und Toleranz vermittelt werden,
ist es möglich, dass Kinder sich befreunden, die sonst im Heim wenig
Kontakt miteinander haben. Noch bewegender ist es aber, wenn Kinder
aus unterschiedlichen Heimen eine Freundschaft schließen. Ohne
Einschränkung begleitet ein nichtbehindertes Kind dann zum Beispiel
ein behindertes, hilft ihm beim Essen, spielt mit ihm und geht mit
ihm spazieren: kümmert sich eben einfach um es. Andererseits
entstehen beeindruckende Beziehungen zwischen den Kindern und den
rumänischen Jugendlichen aus der Fogarascher Kirchengemeinde. Sie –
die Jugendlichen – sind meistens in einem Alter, das zwischen dem
der Betreuer und dem der Kinder liegt. Deswegen werden diese
Jugendlichen von den Kindern in stärkerem Maße als Kameraden und
Kollegen angesehen als wir – die Betreuer aus Deutschland. Dadurch
nehmen die Kinder sehr schnell den Kontakt mit den Jugendlichen aus
Fogarasch auf, wobei auch eine wichtige Rolle spielt, dass die
sprachlichen Barrieren von Anfang an nicht vorhanden sind und das
gesellschaftliche Umfeld dasselbe ist.
Des Weiteren sollen auch die wertvollen Beziehungen zwischen den deutschen bzw. rumänischen Betreuern und den kleinen Heimbewohnern erwähnt werden. Wie wichtig für die Kinder – trotz der kurzen Zeit, die das Ferienlager dauert – die entstandenen zwischenmenschlichen Kontakte mit uns sind, merkt man auch daran, dass sie sich überraschenderweise noch nach Jahren an Mitarbeiter unserer Gruppe erinnern und nachfragen, was diese gerade machen und ob sie nicht vielleicht nächstes Jahr wiederkommen könnten. Diese erfreuliche Tatsache könnte eine Folge der intensiven Betreuung und Zuwendung seitens unseres Teams sein. Da die Kinder in den Heimen selten individuell beschäftigt werden, legen wir einen umso größeren Akzent auf den Ausbau persönlicher Beziehungen bzw. Förderungen, damit die Kinder erleben können, dass es Menschen gibt, denen sie vertrauen können, bei denen sie Geborgenheit, Liebe, Verständnis und Trost finden und nicht zuletzt auch Anerkennung.
Welche unterschiedlichen und vor allem individuellen Umgangsformen möglich bzw. auch gefordert sind, zeigt sich schon am sprachlichen Ausdruck der Kinder. Während wir zum Beispiel mit dem kleinen, verletzlichen Iulian eher weich und verständnisvoll reden mussten, war bei seinem älteren Bruder Constantin, genannt Coco, ein „cooler“ Stil angesagt, und bei dem taubstummen Andrei wiederum geschah die Kommunikation vor allem durch Zeichen, aber noch besser durch Farben und Gerüche. Aber selbst die großen Siebzehn- bis Achtzehnjährigen, die sonst nach außen hin den „coolen Erwachsenen“ zeigen und in der Hierarchie des Heimlebens großen Respekt und Ansehen genießen, sind höchst sensibel. Diese Befindlichkeit kommt in solchen Sätzen wie „es ist so, als wärest du mein Papa, aber natürlich bin ich zu groß dafür, dass du meine Hand nimmst“ deutlich zum Ausdruck.
Ein
anderes häufig anzutreffendes Phänomen ist, dass die Kinder –
unabhängig vom Alter – oft über Adoption reden und von
verschiedenen Adoptionsfällen erzählen oder direkt bei uns
nachfragen, ob wir sie nicht adoptieren könnten. Dahinter steckt
natürlich der Wunsch nach einem Zuhause, aber wahrscheinlich auch
die Sehnsucht nach Personen, mit denen eine Beziehungskontinuität zu
wahren möglich ist. Deswegen ist es immer eine erfreuliche Tatsache,
wenn man beobachten kann, wie die Kinder (selbst die eher
verschlossenen) sich allmählich öffnen, über ihre Gefühle und
Lebensgeschichten erzählen und für eine kurze Zeit glücklich und
ausgelassen sind. Da auch aus jedem Heim ein Erzieher bei der
Kinderfreizeit mitfährt und wir mit ihnen ins Gespräch kommen
können, lernen wir auch sie kennen und haben die Möglichkeit, einen
besseren Blick in das alltägliche Umfeld der Kinder mit seinen
speziellen Belastungen zu gewinnen.
Ich glaube, dass die Ferienlager eine wirkliche Bereicherung für jeden Teilnehmer sind und dass diese Zeit einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder ausübt.
Ciprian Mátéfy