Nach dem Ferienlager ist vor dem Ferienlager (von Bettina Rost)


Rückblick auf die letzte Ferienlagersaison

 Das Jahr 2005 hatte zwei klassische Höhepunkte: die Kinderferienlager über Ostern und in den Sommerferien. Dieses traditionelle Projekt unseres Vereins – die Ferienlager für Sozialwaisen – wird wohl so schnell noch nicht auslaufen. Die Kinder bleiben uns erhalten. Obwohl Rumänien im Begriff ist, die EU-Kriterien möglichst zu erfüllen, wird das Kinderheim Nr. 9 in Agârbiciu/Arbegen nun doch nicht, wie zunächst vorgesehen, im Jahre 2007 aufgelöst. Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt: Die Kinder sind offenbar nicht so leicht in Pflegefamilien zu vermitteln und integrierbar. Nun verbrachten wir mit ihnen wieder einmal glückliche und unbeschwerte Zeiten in der siebenbürgischen Ortschaft Seliştat/Seligstadt bei Fagaraş/Fogarasch. Seliştat übt auf uns einen ganz besonderen Reiz aus: Es gibt dort kein einziges Telefon, kein Netz fürs Handy, der Dorfkonsum bekommt nur zweimal pro Woche Brot geliefert, und eine Straße führt auch nicht in das Dorf, geschweige denn eine Buslinie. Außer dem Lieferauto jenes Lebensmittelladens verkehrt dort eigentlich nur unser Aufsehen erregender Kleinbus, der im Pendelverkehr ständig neue Fuhren mit Kindern vom Fagaraşer Bahnhof abholt, die zu allen Seiten herausschauen, rufen und mit bunten Luftballons winken. Dadurch, dass Seliştat gleichsam wie am Ende der Welt liegt, gibt es dort viel, viel Ruhe, weite, unberührte Natur in einer wunderschönen hügeligen Landschaft, seltene Pflanzen (sogar Heilpflanzen) – und – darin wie ein Fremdkörper wirkend – ein hochmodernes und geräumiges Jugendgästehaus der Fagaraşer irchgemeinde. Es befindet sich direkt neben einer – aus dem 14. Jahrhundert stammenden – Kirchenburg und hat einen riesigen Garten, wo sich die Kinder bei Sport und Spiel verausgaben können. Von dort aus unternehmen wir auch – wieder auf nicht enden wollenden „Nichtstraßen“ – unsere beliebten ‚Exkursionen’, d.h. Ausflüge in das nahegelegene Sighişoara/Schäßburg: Auf dem Programm stehen jedes Mal der Besuch des Rummelplatzes und einer Kinovorstellung, Eis- und Pizzaessen, das Dracula-Museum, eine Reptilienausstellung und abenteuerliche Kutschfahrten durch die engen Gassen der berühmten Altstadt.

Die Ferienlager sind sowohl für die Kinder als auch für uns Erwachsene jedes Mal Zeiten, die uns aus unserem Alltag völlig herausholen und uns – angefüllt mit Erlebnissen, Begegnungen und kleinen Geschichten – ‚verwandelt’ wieder in den Alltag zurückkehren lassen.

Unser Ferienlagerprojekt – eine dankbare und gleichzeitig nicht einfache Aufgabe

Bevor ich auf die kleinen und großen Schwierigkeiten zu sprechen komme, die die Vorbereitung und Durchführung eines Ferienlagers mit sich bringen, möchte ich eines ganz klarstellen: Alle Probleme und Anstrengungen werden durch die Dankbarkeit und das Glück der Kinder hundertfach aufgewogen! Dennoch soll nicht verschwiegen werden, dass diese Kinderfreizeiten nicht problemlos verwirklicht werden können. Und damit meine ich gar nicht einmal so sehr den (nicht einfachen) Umgang mit den Kindern selbst, die ja mit den verschiedensten Problemen beladen sind. Jedes Kind hat etwas anderes: Manche sind geistig, andere körperlich zurückentwickelt, haben Lern- und Sprachschwierigkeiten, wieder andere sind psychisch belastet, traumatisiert oder hyperaktiv, manche sind zum Teil behindert, sind Epileptiker, schwerhörig oder taubstumm. So ist es eine große Herausforderung, allen gerecht zu werden und allen gleichermaßen eine fröhliche Zeit zu bereiten. Aber nun zu den mehr äußerlichen Problemkreisen:

Zunächst muss die Sprachbarriere überwunden werden: Es ist unerlässlich, dass zumindest einige von uns der rumänischen Sprache mächtig sind. So bemühten und bemühen wir uns, in Deutschland die Sprache von Grund auf zu lernen. Das geschieht durch Selbststudium, Ferienintensivkurse für Rumänische Sprache, diverse Sprach- und Konversationskurse an Universitäten oder der Volkshochschule. Inzwischen besitzen einige von uns bereits Zeugnisse von Sprachprüfungen. Fließend zu sprechen, lernt man aber erst im Land selbst. Dazu trugen für viele von uns mehrmonatige Rumänienaufenthalte bei, u. a. Praktika, Studienaufenthalte, ein Austauschschuljahr in einer rumänischen Gastfamilie oder der Zivil­dienst im Ausland.

Zu den Sprachschwierigkeiten kommt der zeitliche, finanzielle und organisatorische Aufwand hinzu, der mit jedem Kin­derferienlager in Rumänien verbunden ist: Schon Monate vor der konkreten Durchführung vor Ort gilt es, Spenden zu sammeln, Groß­einkäufe von Lebensmitteln, Spiel- und Bastelmaterialien zu erledigen, die notwendigen Papiere für das rumänische Jugendamt zusammen zu stellen sowie Räumlichkeiten für ein Ferienlager in Rumänien und einen entsprechenden Kleinbus zu beschaffen. Als nicht ganz unproblema­tisch erweisen sich dabei folgende Punkte: (1.) Die monatelangen Vorbereitungen (und zwar zwei- bis dreimal jährlich!) sind sehr arbeitsintensiv und müssen aber stets ‚nebenbei’ erfolgen: neben Schule, Studium, Beruf und Familie. (2.) Während das Spendenauf­kommen deutschlandweit eher sinkt, steigen in Rumänien die Kosten für Unterkünfte, Lebensmittel, Zug­fahrten usw. Hinzu kommt der nicht unerhebliche Kostenaufwand für unsere Car-Sharing-Busse. (3.) Nach einer sehr langen, an­strengenden und risikoreichen Autofahrt nach Rumänien gilt es dann, beim örtlichen Jugendamt die Er­laubnis zur Durchführung unserer Kinderfreizeiten einzuholen, was nicht ohne Kampf und Nervenkitzel abläuft.

Ein weiteres Konfliktfeld hängt mit der ethnischen Vielfalt in Rumänien zusammen: So werden z.B. die Angehörigen der Volksgruppe der Roma zu Sün­denböcken für die jetzige wirtschaftliche Misere ge­macht; sie stehen seit dem Mittelalter auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie und sind stets Fremde geblie­ben. Wenn wir mit unse­ren Gruppen aus den Heimen von Agârbiciu und Mediaş, in denen ein Großteil der Kinder zu den Roma gehört, ins Ferienlager un­terwegs sind, kommt es regelmäßig vor, dass wir von Mitreisenden abfällig angeschaut und gefragt werden, warum wir ‚diese’ denn „ver­füttern“ wollten. Rumänischen, deutschen und ungarischen Kindern wird der Hass auf „Zigeu­ner“, die nicht als richtige Menschen betrachtet werden, schon von klein auf eingeimpft. – So gewinnen wir immer mehr den Eindruck, dass wir letztendlich auch ein Stück Völkerverstän­digung betreiben, indem wir uns mit jenen unwillkommenen und benachteiligten Kin­dern in der Öffent­lichkeit bewegen, zumal wir uns ja nicht nur mit Roma-Kindern, sondern auch mit rumäni­schen Kindern in Ortschaften und Gästehäusern der ungarischen und deut­schen Minderheit, die ih­ren Nationalstolz nur schwerlich verbergen können, aufhalten. Es stimmt uns aber zuversichtlich, dass die Begeg­nungen mit uns nicht bloß Unverständnis hervorrufen, sondern auch Neugier und Erstaunen, so dass etliche Menschen uns ansprechen, interessiert nachfragen oder den Kindern gar kleine Geschenke machen.

Was die Arbeit mit Sozialwaisen betrifft, so bedarf es aber auch hier neuer Perspektiven. Es ist sehr wichtig, die Ferienangebote für Heimkinder weiterhin aufrechtzuerhalten, zugleich jedoch zu versuchen, das Problem der Vielzahl von Sozialwaisenkindern an der Wurzel zu fassen. Dies versuchen wir mit den hier im Rundbrief ebenfalls beschriebenen Projekten „Familienpatenschaften“ und „Straßenkinderhaus“. Solange es uns möglich ist, möchten wir jedoch weiterhin mit unseren Ferienlagern den Heimkindern zeigen, dass es verlässliche Men­schen bzw. Erwachsene gibt, denen sie vertrauen können, von denen sie geliebt, getröstet und anerkannt werden und zu denen sie eine dauerhafte Beziehung aufbauen können. Es bleibt zu hoffen, dass jene re­gelmäßigen unbeschwerten und glücklichen Ferienwochen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder ausüben. Etliche Kinder werden von uns Freiwilligen auf diese Weise nun schon seit elf Jahren kontinuierlich begleitet und sind dabei mittlerweile erwachsen geworden. Inzwischen bekommen wir auch vermehrt sehr positive Rückmeldungen von Er­ziehern und Heimdi­rektoren, was für uns natürlich auch eine schöne Bestätigung ist. So er­zählte uns ein paar Tage nach Abschluss unseres letzten Sommerferienlagers eine Mediaşer Heimerzieherin, dass al­len Kindern, die mit uns waren, beim ersten Abendessen im Heim die Tränen übers Gesicht liefen, weil es so schön war und sie dieser Zeit nachtrauerten. Oder ein anderes Beispiel: Wir teilten dem Mediaşer Heimdirektor recht förmlich mit, dass keines der Kinder dieses Mal ins Bett gemacht hätte, und er erwiderte uns: „Na das zeigt, es ging ih­nen gut bei Euch, sie haben sich wohlgefühlt bei Euch“. Aus seinem Munde ist das ein rie­sen­großes Lob.

 Wir setzen uns auch für Freundschaften ein

Freundschaft – das Thema vieler Geschichten für Kinder – ist (im wahrsten Sinne des Wortes) lebenswichtig. Jeder braucht min­des­tens einen Freund, mit dem er Dinge gemeinsam erleben kann, Spaß zusammen hat, lus­tige Erin­nerungen teilt, einen Freund, der in schlimmen Zeiten des Lebens zu einem hält. Kin­der brau­chen Freunde. Aber nicht immer ist es leicht, solche zu finden. Wenn Kinder in einer riesigen Kindermeute, z.B. in einem Heim, aufwachsen müssen, ist es umso schwerer, Be­achtung zu fin­den, nicht unterzugehen, Freunde zu haben und zu halten. Da gilt das Recht des Stärkeren, oder besser gesagt: das Recht des Älteren und Größeren, da gibt es harte Konkur­renzkämpfe und manch einer bleibt allein, auf der Verliererseite und wünscht sich, wenigstens einen Freund zu haben.

Und an dieser Stelle kommt nun die Rumänieninitiative ins Spiel. Ferienlager für Heimkinder  bedeuten: kleine Kindergruppen und viele neue Freunde. Und: eine völlig andere Umgebung mit zahlreichen neuen Chancen und Möglichkeiten. Zwischen den Kindern und uns Erwach­senen entstehen Freundschaften oder festigen sich alte Freundschaften – und zwischen den Kindern un­tereinander. Es sind sogar schon kinderheimübergreifende Freundschaften ent­standen, zwi­schen Kindern aus Mediaş und Agârbiciu, und das heißt, zwischen ganz schwa­chen, langsamen Kin­dern, z.T. mit geistiger oder körperlicher Behinderung, und stärke­ren Kindern, die in Agârbiciu die normale Schule besuchen können. Das alles ist möglich, weil die Kinder in diesem kleinen Rahmen, abseits der Kinderheimhie­rarchie, viel entspannter aufein­ander zugehen können und weil sie von uns auch einen andern Umgang miteinander lernen, nämlich dass es auch ein Recht des Schwä­cheren gibt.

 

In gewisser Weise setzen wir uns also für Freundschaften ein, und das heißt gleichzeitig auch: Wir setzen uns für bleibende schöne, gemeinsame Erinnerungen ein, von denen die Kinder im Heim noch lange etwas haben und davon leben können – mindestens bis zum nächsten Fe­rienla­ger.