Reflexionen &
Ausblicke – Reisenachlese 2009

Die kleine, spärlich möblierte Bar am Rande des leeren und
einsamen
Bahnhofsvorplatzes von Carei, einer Kleinstadt im Nordwesten Rumäniens
nahe der ungarischen Grenze, hat am Samstagnachmittag nur 3 Gäste. Ein
Mann mit Hund unterhält sich mit der Frau am Tresen und ich trinke das
erste rumänische Bier dieser Reise, mit dem Blick durch die offen
stehende Tür auf die Bahnhofsstraße, auf einen nahe der Decke
aufgehängten Fernseher im Dauerbetrieb und auf die circa 12
Quadratmeter vor der Theke, umgeben von dunkelrosa gestrichenen Wänden.
Nach einer 2 ½-tägigen Anreise mit vielen, ganz unterschiedlichen
Personenzügen durch Bayern, Böhmen und Mähren, die Slowakei und Ungarn
habe ich heute die ungarisch-rumänische Grenze zu Fuß gequert. Die
Gleise der Nebenstrecke zwischen dem ungarischen Tiborszállás und Carei
liegen zwar noch, doch deutet nichts auf eine grenzüberschreitende
Zugverbindung hin. Angesichts der trotz einer gemeinsamen
EU-Mitgliedschaft noch immer separaten Grenzkontrollen in den wenigen
internationalen Zügen zwischen beiden Ländern ist das scheinbar keine
mittelfristig umsetzbare Vision. Im Gegensatz zu den Passkontrollen im
Zug, die mit Lok- und Personalwechsel schon mal zu 30-60 Minuten
Stillstand im „Niemandsland“ führen, ist der Grenzübertritt auf der
Straße problemlos. Die Ungarn werfen einen kurzen Blick in meinen Pass,
und der etwa 500 Meter entfernte rumänische Einreisekontrollpunkt ist
nicht besetzt.
Ich habe mein Bier fast ausgetrunken, Mann und Hund haben die Bar
verlassen, die Tresen-Frau wischt den Boden und rückt die wenigen
Hocker an den Tisch, draußen hält ein Dacia und ein Polizist betritt
den Raum – nicht um zu trinken oder mit der Bar-Frau zu schwatzen,
sondern um mich nach meinem „Passport“ zu fragen. Die anschließende
Kommunikation verläuft wegen mangelnder Sprachkenntnisse eher
schleppend, er will wissen wo ich her komme und offenbar auch wie ich
über die Grenze gekommen bin. Mit meinen Erklärungen, teilweise in
deutscher, teilweise in englischer Sprache ausgeführt, kann er nicht
viel anfangen. Schließlich fordert er mich auf, mit zum Bahnhof zu
kommen. Wir queren die hohe, leere Empfangshalle, wo ich am einzigen
geöffneten Schalter bereits vorher eine Fahrkarte für den Abendzug nach
Baia Mare gekauft hatte. Am Bahnsteig holt er 2 junge Männer von der
Transportpolizei, die sprechen gut Englisch und befragen mich zu meinem
Grenzübertritt. Da bis zur Zugabfahrt noch viel Zeit ist, erkläre ich
geduldig und eher erheitert an Hand meiner Fahrkarten, wie ich gekommen
bin. Den beiden jungen Polizisten ist die Sache offensichtlich etwas
peinlich, die Befragung ist schnell zu Ende und sie verschwinden wieder
in ihr Büro.
Schließlich verabschiedet sich auch der Kleinstadtpolizist – mit
Handschlag. Doch offenbar ist sein Misstrauen nicht ausgeräumt, nach
einigen Minuten ist er auf dem Bahnsteig zurück und fragt mich erneut
etwas, das ich nicht verstehe. Noch einmal zeige ich meine Fahrkarte
für Baia Mare und bezeichne mich als Tourist, der diese Stadt
besichtigen will, ehe er endgültig von seinem Versuch ablässt, mich als
Schmuggler, Grenzverletzer oder sonstigen Gesetzesübertreter zu
entlarven.
Etwas später, im Schnellzug sitzend, habe ich ausreichend Zeit, die
landwirtschaftlich geprägten Ausläufer der ungarischen Tiefebene am
Fenster vorbei schweben zu sehen und über die Schwierigkeiten
nachzudenken, die viele der Kleinbauern wohl durch das EU-Regelwerk
haben. Im Gegensatz dazu haben sie kaum Chancen, in den Genuss von
EU-Subventionen zu gelangen. Im Jahr 2008 gingen 51 % aller
Subventionen für Rumänien an Betriebe mit mehr als 100 Hektar Land, was
jedoch weniger als 1 % aller landwirtschaftlichen Betriebe in Rumänien
sind (1).
Zeitig am nächsten Morgen fällt der Blick aus dem
Hotelfenster auf
graue Betonfassaden von Wohnhäusern, deren fensterlose Seiten mit
wandfüllenden, grellfarbigen Werbebotschaften bestückt sind. Die
vornehm gekleidete Empfangsdame erklärt mir in fließendem Englisch den
Weg zur Altstadt und empfiehlt mir, auch das Museum für Geschichte zu
besuchen. In diesem Hotel fallen die Gegensätze Rumäniens drastisch ins
Auge: das Hotel selbst ist sehr sauber, ansprechend gestaltet und
professionell geführt – doch gegenüber stehen die grauen
Wohnblockbauten und dahinter eine Parkanlage mit zerbrochenen, von
Unkraut bewachsenen Gehwegplatten, einem wasserlosen Betonbrunnen und
Blumenkübeln voller wild wachsendem Kraut.
Im neuen Dieseltriebwagen lasse ich mich von Baia Mare nach Cluj
fahren. In anderer Farbgebung sind solche Wagen als Regionalbahn in
Deutschland unterwegs. Hier gilt dieser Zug als „Rapid“, und als so
bezeichneter Schnellzug kostet die Fahrt auch deutlich mehr als im
„Personal“, der einer Regionalbahn in Deutschland entspricht.
Die
Armutsgrenze ist für Rumänien bei knapp 100 Euro festgelegt (1). Doch
trotz dieser niedrig definierten Rate hat sich der Anteil der
Bevölkerung, der mit weniger Geld pro Monat auskommen muss, im Jahr
2009 erhöht. Damit bleibt auch eine elementare Mobilität für die
Ärmsten weiter ein ferner Traum und ich verstehe besser, warum die Art
des fahrkartenlosen Zugfahrens – man gibt dem Kontrolleur einen Teil
des Fahrpreises in die Hand – weiter existieren kann und muss. Dass
diese Art der Bezahlung auch bei der neuen Konkurrenz der rumänische
Staatsbahn funktioniert, konnte ich im Winter auf der von der privaten
Firma „Regio Trans“ (2) befahrenen Strecke zwischen Miercurea Ciuc und
Braşov feststellen. Dort fuhren mehrere ältere Bauern auf diese Weise
in ihr Dorf zurück, auf andere Art wäre der
kurze Ausflug vielleicht nicht möglich gewesen.
Einige Stunden später gleiten die frühsommerlich grünen Hügel
Transsilvaniens an mir vorüber, die ich nur durch die kleinen, wegen
fehlender Kurbel nicht zu öffnenden Fenster eines sehr in die Jahre
gekommenen Doppelstockzugs sehen kann. Der Zug fährt pünktlich, jedoch
mit weit offen stehenden Türen in Teius ab, nur wenige Fahrgäste haben
sich auf den vielfach ausgebesserten, kunstledernen Sitzbänken
verteilt. Gedanken an frühere Fahrten in solchen Zügen kommen auf: Quer
durch Rumänien fuhren sie, oft die ganze Nacht durch, so sparten wir
Übernachtungskosten und hatten noch meist gute Erlebnisse dabei. Denn
die Züge waren voll, der langen Reise wegen hatten fast alle Leute
etwas selbst zubereiteten Proviant dabei. Man unterhielt sich, man
teilte das Essen mit Fremden nach nur wenigen Worten, manchmal nur
Gesten.
Heute sitzen fast alle allein hier im Zug, kaum jemand redet,
Jugendliche haben die Lautsprecher ihrer Konserven-Musikspieler in die
Ohren gestöpselt, sie essen fast nur noch Fertigprodukte aus
Plastikverpackungen. Vielleicht gehören sie zu den Kindern, die die
letzten Jahre nur mit einem Elternteil oder ohne ihre Eltern
aufgewachsen sind, weil diese zu den etwa 2 Millionen Arbeits-Migranten
Rumäniens gehören, die zumeist in südeuropäischen Ländern für wenig
Lohn Arbeiten übernehmen, die die einheimische Bevölkerung dort nicht
annimmt. Nach einer Studie der Soros-Stiftung lebten deshalb circa
170.000 Kinder in Rumänien nur mit einem Elternteil oder bei Großeltern
und Verwandten. Mittlerweile mussten viele der Arbeits-Migranten wegen
schlechter Wirtschaftslage zurück nach Rumänien, dorthin, wo in den
letzten Jahren viele Fachkräfte und billige Arbeitskräfte fehlten, so
dass
sogar aus der Türkei, China und Indien Arbeiter ins Land gebracht
wurden (3).
Draußen jedoch, im siebenbürgischen Hügelland, scheint die Zeit stehen
geblieben zu sein. Noch immer fährt hier und da einer der alten Dacias,
ein paar Fuhrwerke warten am Rande staubiger Feldwege, ich höre den
scheppernden Klang der Glocke an einer Bahnschranke, an jeder Station
steht ein uniformierter Bahnangestellter, der mit seiner Kelle das
Signal zur Abfahrt des Zuges gibt. Doch besser ist, wie fast immer,
genauer hinzusehen, denn auch hinter alten Fassaden ist einiges Neues
gewachsen, das sich zu entdecken lohnt.
Während mein Zug vor den fast komplett zusammengebrochenen Resten der
einst
gefürchteten Fabriken von Copşa Mica hält, denke ich an einen
Winteraufenthalt in der exzellent eingerichteten Pension des jungen
Grafen Kalnoky in Mikloşoara (4). Dort wohnt der Gast nicht nur in
aufwendig und stilvoll renovierten und eingerichteten Bauernhäusern und
bekommt frische, mit vielen landestypischen Zutaten bereitete Speisen
in stilvoll eingerichtetem Ambiente, sondern kann mit fachkundiger
Führung Land und Leute der Umgebung kennen lernen. Investitionen dieser
Art unterscheiden sich ganz wesentlich von den vielen, in den Medien
hochgespielten und von Politikern gewünschten. Ich denke auch an die
Begegnung mit einigen Mitgliedern der Organisation „Slow Food
Romania“ (5), die im weitläufigen Parkgelände des Museums für
bäuerliche
Technik in Sibiu (ASTRA) kleine Verkaufsstände mit ihren selbst
angebauten und produzierten Lebensmitteln aufgebaut hatten, und freue
mich, wenn ich am Laden von BioCoop (6) in Sibiu vorbei gehe und sehe,
wie das kleine Geschäft voller Kunden ist.
Die Reise durch Rumänien geht weiter, in unterschiedlichen Zügen, mit
immer mehr Erlebnissen und Begegnungen, und fast am Ende der Reise
sitze ich wieder im Erasmus-Büchercafé (7) von Sibiu und stöbere im
wohl
breitesten Angebot an Literatur aus und über Siebenbürgen, ein bisschen
traurig darüber, dass ich in meinem Rucksack niemals alle die Bücher
wegschleppen kann, die ich noch lesen möchte, vielleicht um Anregungen
für weitere Reisen zu erhalten.
Quellen und Verweise:
(1) http://www.osservatoriobalcani.org/article/articleview/11973/1/404/
(2) http://www.regiotrans.ro/
(3)
http://www.nytimes.com/2009/02/15/world/europe/15romania.html?pagewanted=2&_r=2
(4) http://www.transylvaniancastle.com
(5) http://www.discovertarnavamare.org/ (Verweise unter „Contact us –
our friends“)
(6) http://www.biocoop.ro
(7) http://buechercafe.ro/
Michael Morgenstern