Zwischen Glaube und Aberglaube

Wer kennt nicht das Gefühl, sich mitten am Tag aus heiterem Himmel platt zu füh­len, Kopfschmerzen zu haben, in einem ständigen Gähn-Modus programmiert zu sein, der kontinuierlich läuft und keine richtige Ausschaltbedingung integriert hat. Die üblichen Gegenmittel sind meistens: Frische Luft schnappen, Wasser trinken, oder sich einfach ein bisschen erholen. Wenn nichts hilft und die Kopfschmerzen nicht verschwinden, dann nimmt man doch eine Aspirintablette. Aber wenn das alles nicht hilft, was dann?

Unsere Oma hatte ein anderes Mittel dagegen, es heißt DESCANTEC („Bespre­chen“). Sie machte immer Folgendes: Sie holte eine Tasse Brunnenwasser, öffnete den Kachelofen und nahm mit einer kleinen Blechschaufel ein paar heiße Koh­lenstückchen heraus. Einige glühende Kohlen ließ sie in die Tasse mit frischem Wasser fallen und flüsterte ganz leise einmal das Vaterunser, danach machte sie mit der Hand das Symbol des Kreuzes über der Tasse mit Kohlen und Wasser, als ob sie alles segnen würde. Dabei hielt sie ihren Daumen, Zeigefinger und Mittelfin­ger zusammen – das in der Kirche verkündete Symbol der Dreieinigkeit. Diesen Vorgang des Gebetes und des Segens wiederholte sie drei Mal bis alle Kohlen im Wasser versunken waren.
Banknachbarinnen
Wir können uns erinnern, dass das unsere Mutter in den Fällen, in denen kein Mit­tel geholfen hat, auch durchgeführt hat. Da wir jedoch in der Stadt im Wohnblock keinen Kachelofen haben, hat sie es immer mit drei Streichhölzern gemacht. Das Einzige, was man dabei beachten muss, ist, dass das Feuer des einen angezün­deten Streichholzes immer an das nächste Streichholz weitergegeben wird und da­bei nicht erlöschen darf.

Zufällig kam noch eine Nachbarin vorbei, als die letzte Kohle in der Tasse versank. Nachdem unsere Oma das Vaterunser beendet hatte, meinte unsere Nachbarin: „Ach, das war ein Mann, der den DEOCHI (‚böser Blick’) erzeugt hat!“ Wir guckten sie staunend an und versuchten uns zu erinnern, was wir an dem Tag ge­macht hatten. Tatsäch­lich, an dem gleichen Morgen, als es mir noch gut ging, ha­ben meine Schwester und ich einen alten Bekannten getroffen, der uns Jahre lang nicht gesehen hatte. Dieser Bekannte hatte uns ganz genau angeguckt und sich gewun­dert, wie groß wir jetzt seien – vor allem ich, Nico, die kleinere von uns bei­den. Es war jedoch klar, denn als letztes hatte er mich in Windeln gesehen. Kurz nach dem Treffen, welches ich eigentlich als schön empfand, begann meine Schlappheit. Die Nachba­rin meinte, dass es nicht gut wäre zu schlafen, wenn man in so einem schwachen körperlichen Zustand sei. Das würde nichts bringen, son­dern die Kopf­schmerzen und das Schwächegefühl noch mehr verstärken. Darum Omas Gegen­mittel DES­CANTEC.

Aber woher konnte die Nachbarin das wissen, sie war doch keine Wahrsagerin? Ihre Antwort war jedoch ganz einfach: Wenn die meisten Kohlen tief versinken, heißt es, du bist auf jeden Fall unter einen DEOCHI gefallen. Wenn einige wenige Kohlen an der Wasseroberfläche schwimmen, war das eine Frau, sonst ist es von einem Mann gekommen.

Nachdem unsere Oma fertig war, gab sie uns die Tasse. Weil ich die Kopfschmer­zen hatte, musste ich jeweils drei Schlucke von dem Kohlenwasser trinken, einmal den Finger eintunken, und ein bisschen Wasser mit den Fingerspitzen an der Stirn, am Bauch und auf der Oberseite der Hände in Form eines Kreuzes abtupfen. Dann musste ich hinausgehen, mich mit dem Rücken vor das Tor stellen und das restli­che Wasser über die Schulter mit einem Ruck an den Torpfosten entsorgen. Damit hatte ich das ganze Elend hinter mich gebracht.

Und was dann, fragt man sich bestimmt? Es verging nicht viel Zeit, da begannen die Kopfschmerzen sich zu lösen, das Gähnen verschwand und die Normalität trat wieder langsam ein – die des Wohlgefühls.
Marktwirtschaft
Wenn man diesem alten Brauch auf die Schliche gehen und mehr darüber erfahren will, kommt man nicht weit. Die Regel lautet, man muss den Brauch abgucken oder klauen. Er wird einem nicht erzählt, sonst tritt der Effekt nicht auf. Interessant ist, dass es jeder anders macht. Es ist schwer, dem Flüstern zuzuhören oder es zu verstehen. Manchmal ist es ein Gebet, manchmal nur ein Spruch, wie das „Bespre­chen“ einer Warze, was man nur bei zunehmendem Mond machen darf.

Dieses spezielle Gefühl des Unwohls, das sich häufig durch Symptome wie Kopf­schmerzen, Gähnen, Schwächegefühl äußert, wird bei uns mit dem Begriff DEOCHI bezeichnet. Meistens sagt man im Volk, dass es daran liegen kann, dass dich je­mand zu viel angestarrt hat, mit guten, aber auch mit schlechten Hin­terge­danken. Oder dass sich jemand über dich stark gewundert oder dich sogar be­wun­dert hat. Darum die Empfehlung von den Alten des Dorfes, dass man immer etwas an sei­nem Körper auf der falschen Seite tragen sollte, sei es das Unterhemd oder die Unterhosen. Als Alternative kann man etwas Rotes anziehen oder ein ro­tes Arm­band tragen. Rot wird als die Farbe wahrgenommen, die alle bösen Geister und Gedanken, die jemanden befallen haben, vertreibt. Den Säuglingen, die häufig ein Opfer dieser DEOCHI sein können und infolgedessen sehr unruhig sind und wei­nen, wird präventiv von klein an entweder ein rotes Armband oder eine große rote Masche an der Mütze mitgegeben.

Zu ergänzen ist, dass ein DEOCHI nicht beabsichtigt von einer anderen Person veranlasst werden kann. Das heißt, es können keine bösen Gedanken dahinter ste­cken. Quellen sagen auch, dass er meistens von Menschen kommt, die tiefdunkle Augen haben, die einen quasi mit ihrem Blick hypnotisieren.

Das Wort DEOCHI selbst ist schwer zu übersetzen. De = „von“ und ochi = „Augen“ würde soviel wie „von den Augen“ (im Deutschen etwa: „böser Blick“) bedeuten. Sei es Aberglaube, kombiniert mit Glauben, oder aus der wissenschaftlichen Sicht ein einfacher Pla­cebo-Effekt – DESCANTEC wird sehr häufig praktiziert und schon seit Jahrzehn­ten von Genera­tion zu Generation weitergegeben. Wir können nur bestätigen, dass dieses Verfahren hilft und nicht schädlich ist.

Nicoleta Florentina Rus und Oana Georgiana Rus