Von kleinen und großen Überraschungen - Erlebnisse im Ferienlager

FL_12

Überraschende Neuerungen in den Heimen

Wie jedes Jahr berichten wir von unserem Sommerferienlager mit ca. 21 Kindern aus zwei verschiedenen Heimen in Rumänien. Für diejenigen, die uns schon länger unterstützen, gibt es dieses Jahr ein wenig Abwechslung. Es hat sich viel geändert-und zwar zum Guten. Hier ein paar Eindrücke von einem Tag, die wir selber zum Zeitpunkt des Geschehens nicht wahrhaben konnten:
Wie immer haben wir uns drei Tage vor dem Ferienlager frei genommen, um verschiedene Dinge vor Ort in Rumänien - vom Kinderheimbesuch bis zum Lebensmitteleinkauf - zu erledigen. Wir sind erst gestern angekommen und schlafen nach 26 Stunden Autofahrt erst einmal etwas länger. Die nächsten drei Tage gibt es viel zu tun. Heute ist der Besuch der beiden Heime dran. Wir holen unsere Bekannte Erzsébet in Mediaş ab. Sie soll für uns übersetzen, denn wir wollen ein paar Dinge mit den Direktoren der Heime besprechen.
Zuerst fahren wir in das Mediascher Heim. Wie immer werden wir in den ersten Stock zur Direktorin begleitet, nur werden wir diesmal in ein anderes Zimmer geführt und von der Direktorin ist weit und breit nichts zu sehen. Nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür und ein junger Mann tritt ins Zimmer. Er stellt sich vor mit Poşta Nicolae, Direktor des Mediascher Kinderheims. Unsere Blicke kreisen in die Runde und wir gucken uns verdutzt an. Er wirkt sehr engagiert, optimistisch, aufgeschlossen und äußerst professionell. Herr Poşta erzählt uns, dass er erst seit drei Wochen hier ist und vorher im Heim für erwachsene Behinderte in Dumbrӑveni gearbeitet hat. Die Tür öffnet sich und Geza, ein 12-jähriger Junge, den wir schon seit vielen Jahren kennen und der wahrscheinlich allen als Klassenclown oder Unruhestifter bekannt ist, betritt den Raum. Herr Poşta winkt ihn zu sich und stellt ihn uns als „unser Geza, der Schauspieler!“ vor. Wir lachen und freuen uns über die positive Einstellung des neuen Herrn Direktor. Er liebt die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen und legt großen Wert darauf, die individuellen Talente der Kinder zu fördern. Er sagt, jedes Kind hier hat seine Begabung.
FL_13 Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfahren wir noch, dass er neben seiner sozialpädagogischen Ausbildung auch Musik studiert hat und in Rumänien ein nicht unbekannter Folklore-Künstler ist. Das ist auch das erste, was uns die Kinder auf der Autofahrt ins Ferienlager berichten: „Unser Direktor singt!“, und die ganze Fahrt über läuft dann seine aktuelle CD in voller Lautstärke. Kurios! Wir nehmen uns vor, wenn wir wieder in Deutschland sind, uns diesen musikalischen Heimdirektor auf YouTube noch einmal anzuhören…
Außerdem beteuert Nicu Poşta noch, dass er sich sehr auf die Zusammenarbeit mit uns freut und uns gern von einer Projektidee erzählen würde. Er möchte ein Projekt für die Jugendlichen aufbauen. Wenn die Kinder volljährig sind, müssen sie das Heim verlassen und sind dann auf sich allein gestellt. Sie müssen einen Job suchen und beweisen, dass sie einen Wohnsitz unterhalten können, damit sie eventuell vom Staat finanzielle Unterstützung bekommen. Arbeitsplatz- und Wohnungssuche, Bürokratie, Einkaufen, das soziale Umfeld und der ganz „normale” Alltag sind eine große Herausforderung. Wir sind sehr interessiert und denken, dass seine Idee perfekt zu unserer Initiative passt. Herr Poşta erklärt, dass er uns vor allem mit den Kontakten vor Ort in Rumänien unterstützen kann, als plötzlich die Tür erneut aufgeht und eine Frau um ein Gespräch mit dem Direktor bittet. Es würde nicht lang dauern, aber sei dringend. Nicolae Poşta stellt uns die junge Frau als Cornelia Dan, die Direktorin des Kinderheims von Agârbiciu vor. Wir trauen unseren Ohren nicht. Wie viele Jahre fahren wir schon nach Rumänien, und auf einmal ändert sich alles Schlag auf Schlag? Wir hatten sowieso vor, am Nachmittag das Heim in Agârbiciu zu besuchen. Frau Dan verabschiedet sich und sagt, dass sie sich auf unseren Besuch am Nachmittag freut.
In Agârbiciu geht es weiter mit den Neuigkeiten. Frau Cornelia Dan ist erst seit einer Woche im Amt. Zuvor war sie in einer leitenden Position im Sozialamt in Sibiu tätig. Sie hatte sich auf die Direktorenstelle in Agârbiciu beworben, wurde eingestellt und macht seitdem Ordnung, wie sie uns erzählt, und das zum Erstaunen und zur Freude ihrer Kollegen und sogar der Polizei. Scheinbar ist Frau Dan die erste Direktorin, die nachts persönlich ins Heim kommt, um nach dem Rechten zu schauen. „Ihr hättet mal die Gesichter der Kinder sehen sollen, als ich zum ersten Mal nachts hier auftauchte“, berichtet sie uns, „mit großen Augen schauten sie mich völlig verdutzt an.“ Zunächst wurden die Büroräume renoviert, weil Frau Dan weiß, dass sie viel Zeit in den Räumlichkeiten verbringen wird. Als nächstes stehen die Zimmer der Kinder auf dem Plan.
Alles wird anders. Dieses Jahr werden die Arbegener Kinder mit dem hauseigenen Bus von einem Fahrer nach Seliştat ins Ferienlager gebracht. Sogar die neue Direktorin kommt mit und bleibt noch zum Kaffeetrinken, um sich ein Bild davon zu machen, wie es „ihren“ Kindern im Ferienlager ergehen wird, ob jeder sein Bett findet, und sicher war sie auch ein wenig neugierig auf unsere „berühmten“ Ferienlager. Die Kinder erzählen ja immer vom „Tabӑrӑ“ („Lager“). Wir haben ein solches Interesse noch nie erlebt! Die größeren Kinder, die sonst immer den Sommer über im Heim bleiben, machen einen Ausflug nach Mediaş, um dort gemeinsam mit den Mediascher Kindern ein Fußballturnier auszutragen. Eine Initiative von den beiden neuen Direktoren. Wir sind glücklich. Endlich tut sich was, und wir können uns noch mehr Zeit für die Kinder nehmen. Endlich haben wir das Gefühl, mit den Direktoren anstatt gegen sie zu arbeiten. Am Abend reden wir noch lange über die positiven Überraschungen und was das alles möglich macht! Solche Veränderungen werden sich auch schnell positiv auf die Kinder auswirken.
FL_9

Schmerzliche Überraschungen

Manchmal sind es auch tieftraurige Überraschungen, die wir erleben. Nämlich dann, wenn wir unvermittelt erfahren, dass eines unserer Heimkinder, das wir viele, viele Jahre gekannt, geliebt und betreut haben, gestorben ist. Ein Kind und später groß gewordener Jugendlicher, mit dem wir so viele schöne, witzige und unvergessliche Momente erlebt haben, ein Kind, mit dem so viele Erinnerungen verbunden sind. Inzwischen sind es schon fünf Kinder, von denen wir wissen, dass sie nicht mehr leben. Zum Beispiel der taubstumme kleine und schmächtige Andrei, der Magenkrebs hatte, oder unser Puiu („Kücken“), der eigentlich Dumitru hieß und den wir seit 12 Jahren gekannt haben. Puiu ist in diesem Herbst gestorben, er war geistig behindert, Epileptiker und trug stets viele Ängste mit sich herum, aber im Ferienlager fand er oft auch Frieden, blühte dann regelrecht auf und genoss unbeschwerte Momente. 2001, mit acht Jahren, kam er das erste Mal mit uns, seit er 18 Jahre und damit erwachsen geworden ist, wurde er von einem „Altenheim“ zum anderen verschoben, wir haben ihn in diesen Jahren – im Anschluss an unser Ferienlager – immer noch besucht, letztes Jahr fanden wir ihn in der Psychiatrie in Sibiu vor. Als er uns dort im Krankenhausflur sah, war das eine völlig unerwartete Überraschung für ihn, und er hat uns auch gleich dem gesamten Klinikpersonal vorgestellt. Im nächsten Sommerferienlager werden wir für Puiu gemeinsam mit allen Kindern einen Ballon steigen lassen und so von ihm Abschied nehmen. Wir werden ihn niemals vergessen.

Marcel und die Zirkusüberraschung

Marcel ist ein geistig behinderter Jugendlicher mit stark autistischen Zügen, der – wie damals auch Puiu – im Heim von Mediaş lebt, aber eben auch in seiner ganz eigenen Welt, in die man nicht immer leicht durchdringen kann. Dies schafft aber z. B. die Kirchturmuhr in unserem Seligstädter Garten, wenn sie stündlich zu schlagen beginnt und Marcel vor Freude aufspringt und einmal ums Haus rennt. Auch liebt Marcel Süßigkeiten über alles und ist hier nicht zu bremsen. Hat man ihn den ganzen Tag kaum wahrgenommen, taucht er ganz plötzlich wie aus dem Nichts neben einem auf, um wie die anderen Kinder in die aufgehaltene Bonbontüte zu greifen. Wenn er den Schokoladenpudding – angesetzt für 40 Personen – in der Küche auf dem Herd umrühren darf, kann man ihn lächeln sehen, einer dieser ganz seltenen Momente.
Aber Marcels Lebensthema ist der Zirkus. Mit dem Gedanken, einmal in den Zirkus gehen zu dürfen, schläft er abends ein und steht morgens wieder auf. Als wir auf einem Ausflug mit den Kindern in Fӑgӑraş die orthodoxe Kirche besichtigen, deren prachtvolle goldene Kuppel in diesem Jahr das Deckblatt unseres Heftes ziert, reißt er sich von unserer Hand los und sprintet in den Altarraum, kniet dort nieder und sendet mit lauter Stimme ein Stoßgebet zum Himmel: „Lieber Gott, lass mich in den Zirkus gehen“. Uns war das zunächst ein wenig peinlich – der Aufruhr, den wir mit unseren Kindern in dem andächtigen, weihevollen Kirchenraum verursacht haben. Aber Gott nicht, er hat dieses von tiefstem Herzen kommende, grundehrliche Gebet eines behinderten Jungen nicht überhört. Jedoch nicht wir selbst (!), sondern unsere drei freiwilligen jugendlichen Helfer aus Rumänien kamen auf die Idee, mit Marcel an diesem Abend noch einmal nach Fӑgӑraş hinunterzufahren und ihm diesen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Denn tatsächlich war gerade ein Zirkus in der Stadt, die Plakate hingen unübersehbar an jedem zweiten Baumstamm…
Marcel_5 Nun lassen wir aber Silviu aus Sibiu zu Wort kommen, der – mit Sieglinde aus Fӑgӑraş und Costel aus Viscri – Marcel in das Zirkuszelt am Abend begleitet hat: „Zuallererst muss ich sagen, dass ich nicht weiß, ob ich viel über den Besuch im Zirkus schreiben kann, denn die Freude in Marcels Augen kann nicht mit Worten beschrieben werden. Alle Teilnehmer am Ferienlager kennen Marcel aus dem Mediascher Kinderheim, und alle wissen, dass er ein großer, wahrscheinlich der größte Fan vom Zirkus ist. Er fragt jedes Jahr, ob wir mit ihm zum Zirkus gehen wollen. Aber dieses Jahr haben die anderen Jugendlichen, Sieglinde, Costel und ich, kurzerhand beschlossen, einen Zirkusbesuch für Marcel wahr zu machen. Der „Zirkus Colosseum“ gastierte gerade in Fӑgӑraş. Wir stiegen ins Auto und hatten eine entspannte Autofahrt in die Stadt. Auch wenn Marcel sehr ruhig war, wirkte er auf mich glücklich. Wir erreichten Fӑgӑraş etwas zu früh und beschleunigten die Wartezeit, indem wir viele Fotos machten und mit Marcel eine Limonade tranken. Dann war es endlich so weit. Wir gingen zum Zirkuszelt, kauften Tickets und suchten uns die besten Plätze mit der besten Sicht auf alles. Marcel war sehr aufgeregt. Er erkundet seine Umwelt immer sehr genau und selbstverständlich verbrachte er auch hier viel Zeit, sich alles bis ins Detail anzuschauen.
Es fällt mir sehr schwer, das Glück in seinen Augen zu beschreiben, als die Vorstellung endlich anfing. Marcel klatschte 60 Minuten lang in die Hände und sang. Ich war sprachlos. Sieglinde und Costel und die Menschen um uns herum auch. Am besten hat ihm die Vorstellung vom Känguru gefallen. Nach der Vorstellung bedankte er sich und fragte, ob wir ihn im nächsten Jahr wieder mit in den Zirkus nehmen können. Ich denke die Frage erübrigt sich für uns alle, denn die Antwort ist
„JA!“

Ina Weise, Silviu Frӑţilӑ, Bettina Rost