Familienpatenschaft konkret: Familie Nagy

Seit einigen Jahren schon betreuen wir - ganz im Sinne unseres neuen Projektes "Familienpatenschaften" - eine rumänische Familie. Wir - das sind meine beiden Geschwister und ich, meine Mutter und meine Großmutter. Unsere Patenfamilie, Familie Nagy [Namen geändert], lebt in einem Dorf unweit der Arbeiterstadt Mediasch. Im Folgenden möchte ich zum einen ihre Lebenssituation skizzieren, zum anderen Lösungsansätze im Rahmen des Familienprojektes aufzeigen.

Lebenssituation von Familie Nagy

1. Die beiden größeren Kinder Daniel (13 Jahre) und Elizabeta (10 Jahre) gehen in Mediasch zur Schule. Jeden Tag haben sie dabei einen Fußmarsch von anderthalb Stunden hin und zurück zu bewältigen. Ein schmaler Trampelpfad führt vom Dorf in die Stadt hinunter. An ihren weiten Schulweg bei Wind und Wetter haben sich die beiden gewöhnt; eine Monatskarte für den Bus kann sich die Familie nicht leisten. Im Winter allerdings wird der Gang zur Schule und nach Hause durch tiefen Schnee, bei klirrender Kälte und angesichts früher Dunkelheit beschwerlich und unangenehm, zumal die Kinder, was das feste Schuhwerk anbetrifft, nicht eben optimal ausgestattet sind. Ihre Mutter Hilde ist als Arbeiterin in der Mediascher Glasfabrik tätig. Auch sie legt den Weg in die Stadt hinunter zu Fuß zurück. Da sie Schichtdienst hat, ist sie des Öfteren auch nachts auf einsamen Pfaden unterwegs, was gerade in Rumänien nicht ganz ungefährlich ist.

2. Hildes Ehemann, der Vater von Daniel und Elizabeta, hat die Familie vor Jahren verlassen. Ihr jetziger Lebensgefährte Marin ist arbeitslos. Ab und zu verdient er ein paar Lei [rumänische Währungseinheit] nebenbei, indem er im Dorf als Tagelöhner arbeitet. Hinzu kommt, dass er Alkoholiker ist. Hilde und ihre Kinder werden von ihm geschlagen. Doch trennen kann sich Frau Nagy von ihm nicht, ist sie doch in gewisser Weise abhängig von ihm. Ein Mann in der Familie ist nötig als Schutz für Haus und Kinder, die sonst häufig allein zu Hause wären. Wir haben die traurige Erfahrung machen müssen, dass wir Bargeld nur Frau Nagy persönlich in die Hand geben dürfen, und zwar heimlich. Andernfalls kommt es nicht der Familie zugute, sondern wird vom Mann einbehalten und für seinen Alkoholkonsum verwendet.

3. Gas- und Stromkosten sind in Rumänien hoch. Arme Familien, wie die Nagys, müssen darum im Winter besonders sparen; sie heizen ihren Gasofen möglichst wenig, und wenn, dann nur in der Küche. Als wir letztes Weihnachten bei ihnen zu Besuch waren, getrauten wir uns nicht einmal, uns dort auf einen Stuhl zu setzen, so eiskalt waren die Sitzflächen. Zudem hatte sich die kleine Elizabeta einen gefährlich klingenden Husten zugezogen. Kein Wunder in dieser kalten Behausung!

4. Die Hütte von Familie Nagy, bestehend aus einem winzigen Küchen- sowie einem  Schlafraum, ist sehr behelfsmäßig eingerichtet und ziemlich heruntergekommen. Ein ,Plumpsklo' befindet sich draußen im Garten, ein Bad oder Waschbecken gibt es nicht. Für fünf Personen sind zwei Betten vorhanden. Auf solch engem Raum und mit einem alkoholabhängigen Stiefvater im Hause ist es für die Kinder kaum möglich, ihre Schulaufgaben ordentlich zu machen. Entsprechende Lernschwierigkeiten hat Daniel, der schon zweimal ein Schuljahr wiederholen musste.

Auch die Hygiene lässt in derartigen Wohnverhältnissen zu wünschen übrig. Frau Nagy besitzt nur einen einzigen Kochlöffel, und das ist ein Holzstock. Der einzige Kochtopf im Haus dient nicht nur der Essenszubereitung für die Familienmitglieder, sondern auch als Futterbehälter für Schaf und Ziege.

5. Vor einiger Zeit war Frau Nagy wieder schwanger. Sie wusste sich in ihrer verzweifelten Lage nicht anders zu helfen, als ihr Kind abtreiben zu lassen. Während des Schwangerschaftsurlaubs hätte sie nur eine minimale Unterstützung von ihrem Betrieb bekommen, so dass sie als Alleinverdienerin ihre Familie kaum mehr hätte versorgen können. Wie nicht wenige Frauen in ähnlicher Situation war sie vor die Alternative gestellt, ihr Ungeborenes auszutragen, dafür aber ihre beiden größeren Kinder zur Versorgung in ein Kinderheim zu schicken, - oder aber die Schwangerschaft abzubrechen zugunsten ihrer anderen Kinder. Sie hat sich für Daniel und Elizabeta entschieden.

Im November des letzten Jahres hat Hilde dennoch ein drittes Kind gesund zur Welt gebracht. Die kleine Irina wurde in große Armut hinein geboren. Gerade in dieser Situation möchten wir die Familie keinesfalls im Stich lassen.

Hilfsmöglichkeiten

Wie kann es gelingen, das Leben von Familie Nagy so weit wie möglich zu erleichtern?

1. Was die weiten Schul- und Arbeitswege von Hilde, Daniel und Elizabeta anbelangt, so haben wir uns entschieden, allen dreien zumindest in den Wintermonaten (von Dezember bis März) Monatskarten für den Bus zu kaufen. Dies sieht dann so aus, dass der rumänische Sozialarbeiter, der das Projekt "Familienpatenschaften" vor Ort koordiniert, die entsprechende Geldsumme von uns zur Verfügung gestellt bekommt - ein Konto zu diesem Zwecke ist eingerichtet -, die Monatskarten monatlich besorgt und sie den Nagys persönlich vorbeibringt. Das hat auch den Vorteil, dass dem Marin kein Bargeld in die Hände fällt; denn mit einer Busfahrkarte kann er wenig anfangen. Für das Geld, was von unseren Spenden übrig bleibt, geht der Sozialarbeiter manchmal mit Elizabeta und Daniel zum Friseur, um ihnen die Haare waschen und schneiden zu lassen, kauft für die Kinder Schuhe oder Bonbons.

2. Damit nicht unnötig Bargeld im Haus ist, ist es - wie gesagt - am besten, dieses sofort in materielle Dinge, wie Monatskarten usw., umzuwandeln. Andernfalls ist die Versuchung für die Familie zu groß, das Geld unzweckmäßig auszugeben. Statt dessen wurde von unserem gespendeten Geld zunächst eine Ziege gekauft, später kamen zwei Schafe und ein Schwein hinzu. In solchen Anschaffungen sehen wir eine dauerhafte Unterstützungsmöglichkeit. Zum einen können nun Milch, Käse, Fleisch und Wurst selbst erwirtschaftet werden. Zum andern ist es Marin, der seither in der Versorgung der Tiere eine sinnvolle Tätigkeit gefunden hat und darin tatsächlich in gewisser Weise zu einer Hilfe für die Familie geworden ist. Und darum geht es ja auch bei unserem neuen Familienprojekt: Statt Faulheit durch Geldspenden zu fördern, soll Hilfe zu eigenverantwortlicher Selbsthilfe geleistet, d.h. Arbeit und Unabhängigkeit geschaffen werden.

3. Des Weiteren haben wir im Dorf ein vertrauenswürdiges älteres Ehepaar aus der dortigen evangelischen Kirchengemeinde gefunden, denen wir regelmäßig einen pauschalen Geldbetrag hinterlassen. Sie verwalten das Geld für Familie Nagy in unserem Sinne und bezahlen davon jeden Monat deren Gas- und Stromkosten. Nicht nur wird auf diese Weise das Geld von Seiten der Nagys nicht anderweitig verbraucht; vielmehr geht es darum, dass sie nun ohne Bedenken im Winter heizen können, ohne Angst haben zu müssen, in Schulden zu geraten. Zumal da jetzt noch ein Baby im Hause ist, scheint es doppelt wichtig, für die Gesundheit der Kinder Sorge zu tragen und warme Zimmer zu gewährleisten.

Ähnlich könnte man diese Art der Hilfeleistung auch unseren Sozialarbeiter organisieren lassen, so dass er entweder jemanden ausfindig macht, der für eine Familie die laufenden Kosten stellvertretend bezahlt, wie unsere beiden Bekannten es tun, oder dass er diese Aufgabe selbst übernimmt.

Im Übrigen haben wir eine ganze Menge Wollreste gesammelt, wovon eine befreundete Nachbarin der Nagys, eine alte Frau, für Daniel, Elizabeta und die kleine Irina begeistert warme Sachen strickt.

4. Auf Initiative von Toni Dorin, dem Sozialarbeiter, wurde mit Hilfe unserer Geldspenden schließlich die Hütte der Nagys komplett renoviert, woran sich der Mann im Hause wieder sinnvoll beteiligen konnte: So wurden die Wände verputzt, Fußboden und Zimmerdecke erneuert, eine Tür eingebaut und elektrischer Strom gelegt. Weiterhin planen wir, eventuell den Einbau eines einfachen Bades vornehmen zu lassen.

Zu Weihnachten haben wir für die Familie außerdem Kochtöpfe und Besteck gekauft. Auch solche Dinge könnte unser Sozialarbeiter für andere Familien arrangieren, zumal es heutzutage in Rumänien all dies zu kaufen gibt.

5. Um Hilde ein wenig zu entlasten, nehmen wir ihre beiden größeren Kinder manchmal mit in die Ferienlager für Kinderheimkinder, die von der Dresdner Rumänieninitiative durchgeführt werden und an welchen sich mein Bruder und ich regelmäßig beteiligen. Die Kinderfreizeiten finden nicht selten in ebendiesem Dorf statt, in dem Familie Nagy -  wie übrigens viele andere am Patenschaftsprojekt teilnehmende Familien - lebt. Daher boten wir Frau Nagy auch schon des Öfteren an, für uns und die Heimkinder ein bis zweimal in der Woche eine Mahlzeit zu kochen und sich etwas dazuzuverdienen. Einmal entlastet uns dies vom mühsamen Küchendienst, zum andern gibt es dann echt rumänische Speisen für die Heimkinder, die von unseren westlichen Essgewohnheiten nicht immer begeistert sind. Drittens kommt Frau Nagy unseren Bitten diesbezüglich auch deshalb gern nach, da sie in solchen Fällen nicht mehr nur Hilfeempfänger ist, sondern merkt, dass ihre Hilfe ebenfalls gebraucht wird. Nicht zuletzt kocht Hilde ganz hervorragend und lässt sich von den Kinderheimkindern dabei in der Küche liebevoll helfen, so dass die gemeinsamen Mahlzeiten mit ihr jedes Mal zu regelrechten Festessen ausarten.

Letztes Ostern schlachtete Hilde für unsere Ferienlagergruppe sogar eine ihrer Ziegen, die wir ihr natürlich bezahlten, um eines Abends am Lagerfeuer gemeinsam mit uns und den Kindern zu grillen.

6. Wir haben uns weiterhin vorgenommen, der Familie 10 Euro pro Monat, d.h. nie eine allzu große Geldsumme in Bar zukommen zu lassen, - Geld, das die Nagys nach eigenem Belieben ausgeben können, sei es für einen neuen Babystrampler, die Reparatur ihres Kassettenrekorders oder für die Einlösung eines Rezeptes in der Apotheke. Dieses Geld wird wiederum von unserem Sozialarbeiter in Rumänien verwaltet, der auch darum bemüht ist, es möglichst Frau Nagy persönlich in die Hand zu geben.