"Der barmherzige Zigeuner" - Biblische Motive in Rumänien (von Bettina Rost)

Als Theologiestudentin sind mir die biblischen Erzählungen - nicht zuletzt aufgrund bestandener Bibelkundeprüfungen - wohl bekannt und stets im Hinterkopf. Seitdem ich jedoch als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Dresdner Initiative Rumänien e.V. meine vorlesungsfreie Zeit des Öfteren in Rumänien verbringe, sei es im Rahmen von Hilfsgüter-Transporten oder bei unserer Arbeit mit rumänischen Waisenkindern, habe ich häufig den Eindruck, dass gerade in diesem Land jene totgeglaubten biblischen Geschichten für uns lebendig und anschaulich werden. Im Folgenden sollen einige dieser eigentümlichen Parallelen zur Welt der Bibel vorgestellt werden.

1. Die Weihnachtshirten. - "Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde." (Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2,8)
Neben 'biblischen' Eseln, mit deren Hilfe kleine Hirtenjungen in sengender Hitze Wasser holen, lassen sich in Rumänien noch richtige Viehhirten wiederfinden, die allerdings in keiner Weise dem romantisch-verklärten Bild entsprechen, das man im Allgemeinen von den Hirten im Stall zu Bethlehem hat. Ihr Lebensalltag ist rau, von Alkohol und bitterer Armut geprägt. Offenkundig hatte sich der Engel des Herrn vor 2000 Jahren nicht gescheut, in eine solche alkoholisierte Gesellschaft hineinzutreten und "große Freude" zu verkündigen.

2. Betrügerische Zöllner. - "Und als er vorüberging, sah er Levi ... am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach!" (Markus 2,14)
Man höre und staune: Eine Jüngerberufung am Zollhäuschen! Später erweist sich der frisch gebackene Jesusanhänger namens Levi (rumänisch: Liviu) bei einer gemeinsamen Mahlzeit seinem neuen Herrn und Meister gegenüber als Gastgeber, was von den umstehenden Juden missbilligend zur Kenntnis genommen wird - man isst nicht mit Zöllnern! Jesu Entgegnung ist aufschlussreich: Er sei doch nicht zu den Gerechten gesandt, sondern zu den ungerechten Sündern, den Zöllnern! (Mk 2,16-17) Trotz staatlicher Kontrollmaßnahmen seitens der Römer scheinen (rechtswidrige) Zollvergehen also auch damals schon gang und gäbe gewesen zu sein, weshalb die Zöllner sich keiner allgemeinen Beliebtheit erfreuten. Nicht umsonst ermahnt Johannes der Täufer diejenigen Zollbeamten, die Besserung gelobten und sich zu diesem Zwecke von ihm in der Wüste (oder ist das Niemandsland zwischen Tschechien und der Slowakei gemeint?!) taufen ließen: "Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!" (Lukas 3,13) Wahrscheinlich liefen sie stets Gefahr, ihr Amt zu missbrauchen, um sich selbst zu bereichern. Neben diesen reumütigen Täuflingen des Johannes und dem Jesusjünger Levi begegnen wir in einer anrührenden neutestamentlichen Erzählung dem kleinwüchsigen Oberzöllner Zachäus aus Jericho (Lk 19), der nach seiner erfolgreichen Bekehrung sein unrechtmäßig erworbenes Kapital den geschädigten Kunden vierfach zurückerstatten und den Rest den Armen spenden will.Wie an diesen drei Beispielen deutlich geworden sein dürfte, ist die ungarisch-rumänische Grenzstation nicht die erste und einzige Zollstätte, an der wie selbstverständlich Bestechungsgelder kassiert und sozial engagierte Hilfstransport'ler von korrupten Zollbeamten in angsteinflössenden schwarzen Lederjacken schikaniert werden. Scheinbar war man deren betrügerischen Machenschaften schon im neutestamentlichen Palästina ohnmächtig ausgeliefert. Seit wir mit verschiedenen osteuropäischen Zollbediensteten zu tun haben und in mehreren rumänischen Zollämtern Stammgäste geworden sind, deren Forderungen wir aber, was die Fertigstellung unserer Zollpapiere betrifft, kaum noch erfüllen können, ist mir die Empörung der Pharisäer und Schriftgelehrten über den Umgang Jesu mit den Zöllnern nur allzugut verständlich. Auch wenn mir die niedliche Zachäusgeschichte - aus zahlreichen Kindergottesdiensten bekannt - lieb geworden ist, höre ich sie nach vielen beschwerlichen Hilfstransporten nach Rumänien mit anderen, kritischen Ohren. Ich weiß nun, dass solche Zollbedienstete wie Zachäus keineswegs bedauernswerte Geschöpfe sind, die nur ein wenig vom rechten Wege abgekommen sind. Umso erstaunlicher und kaum denkbar erscheint einem aus dieser Perspektive die Vergebungsbereitschaft Jesu, der sich solche ehemaligen Gauner zu Freunden gemacht hat. Und insgeheim keimt in mir der Wunsch auf, bei der nächsten Grenzüberschreitung auch einmal auf einen reuigen Zachäus zu treffen, der unserem Verein die Bestechungssummen eines Jahrzehnts vierfach zurückgibt. Wir hätten dann nicht nur für viele weitere Ferienlager mit rumänischen Heimkindern die nötige finanzielle Rückendeckung im voraus, sondern auch einen immensen Kaffeevorrat der Sorte Jacobs Krönung!

3. Straßensozialarbeit. - "Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. [...] Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, daß mein Haus voll werde." (Lukas 14,21.23)
Jesu Gleichnis vom großen Abendmahl (Lk 14) handelt von einem Gastgeber, der sich nicht beleidigt zurückzieht, nachdem die eigentlich vorgesehenen Gäste seiner Einladung nicht nachkommen konnten bzw. wollten. Stattdessen bittet er gesellschaftlich unterprivilegierte Menschengruppen, deren Lebenswelt die Straße ist (Obdachlose, Blinde, Körperbehinderte), zu Tisch. Solcher Großmut ist in der Tat bewundernswert, kennt man die unzähligen Straßen- und Bettelkinder der rumänischen Großstädte, die eine warme Mahlzeit so nötig hätten, aber zumeist als lästig empfunden werden. Sitzen wir gemütlich in einem Straßencafé, während sich uns schmutzige Kinderhändchen bettelnd durch den Zaun entgegenstrecken, kommt in der Regel sogleich der Gastwirt und verjagt die Kinder; möglicherweise lässt er dies auch durch schlagende Polizisten erledigen. Selbst wenn sein Lokal gerade schlecht besucht wäre, würde er wohl kaum die Kinder von der Straße auf einen Teller Suppe hereinbitten.

4. Das Scherflein (bzw. das letzte 500-Lei-Stück) der Witwe. - "Unsere Söhne und Töchter müssen wir verpfänden, ... damit wir essen und leben können." (Buch Nehemia 5,2)
Im Alten Testament ist häufig von der Personengruppe 'Witwen und Waisen' die Rede, die gesellschaftlich am meisten benachteiligt ist und darum nicht vergessen und übersehen werden soll: "Lernet Gutes tun, ..., helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!" (Jesaja 1,17) Unsere Arbeit an Waisenkindern, die teilweise unter fragwürdigen Zuständen in rumänischen Kinderheimen "aufbewahrt" werden, kann wohl als eine aktuelle Konkretisierung dieses Sozialgebotes betrachtet werden. Nicht selten handelt es sich dabei um ausgesetzte Kinder. Aus wirtschaftlicher Not heraus, wie sie auch schon Nehemia und seine Zeitgenossen gekannt haben müssen, werden Söhne und Töchter bei der zentralen Kinderheimverwaltung der nächsten Kreisstadt "abgegeben" und dort von ihren Verwandten zurückgelassen.

Weiterhin wird in den Evangelien eine arme Witwe als Vorbild der Solidarität hingestellt, die in die kirchliche Kollekte alles gab, was sie hatte (z.B. Markus 12,41-44). In ganz ähnlicher Weise handelt eine alleinerziehende, sehr arme Mutter von zwei Kindern aus Eibesdorf/Ighisu Nou, wenn sie uns in ihrer Gastfreundschaft mit äußerst bescheidenen Mitteln ein reiches Festessen bereitet, obwohl sie statt eines Kochlöffels nur einen krummen Stock besitzt. Selbst eine weiße Tischdecke wird mit grauem Packpapier nachgeahmt. Diese liebenswerte Frau ist es auch, die kürzlich ihr drittes Kind aus Verzweiflung abtreiben ließ. Andernfalls hätte sie als Schwangere sofort ihren Arbeitsplatz in der Fabrik verloren und  somit ihre beiden Kinder entweder zum Betteln in die Stadt schicken oder ins Heim geben müssen

5. Gedankenexperiment: Der barmherzige Samariter - ein Zigeuner? - Vielen ist sicherlich die neutestamentliche Geschichte vom barmherzigen Samariter ein Begriff (Lukas 10,30-35).
Jesus erzählte sie, um daran zu verdeutlichen, was für eine Verhaltensweise die Praxis der Nächstenliebe verlangt. In jener Geschichte ist das Phänomen, dass es ein Fremder ist, ein Ausländer innerhalb der jüdischen Gemeinde, ein Mann aus Samarien und kein Jerusalemer Jude, der hier spontane Hilfe leistet und dem Überfallenen unter die Arme greift,  - einer, der hierfür eigentlich gar nicht zuständig ist, dem man hier nichts Gutes zutraut, ein Verachteter, ein Unberührbarer, dem man nur mit Vorurteilen begegnet. Das Ungeheuerliche an dieser Geschichte, das, was bei den damaligen Hörern vermutlich großes Aufsehen erregt und sie befremdet hat, versuchte ich einmal dadurch neu zu erschließen, daß ich das Gleichnis in einen völlig neuen Kulturkreis verpflanzte, was sich dann so anhört:

"Ein Mann reiste per Anhalter von Sibiu/Hermannstadt nach Sighisoara/Schäßburg. Als er wieder einmal - es dunkelt bereits - an einer Kreuzung mit seinem Pappschild, auf das der Zielort mit Großbuchstaben geschrieben ist, warten muss, wird er überfallen und niedergeschlagen. Man raubt ihn aus. Man lässt ihn halbtot liegen. Ein rumänisch-orthodoxer Priester auf dem Weg zu einem Abendgottesdienst kommt vorbei, sieht den Mann liegen in seinem Blut, will sich jetzt nicht mehr schmutzig machen. Geht weiter. Ein siebenbürgisch-sächsischer Kirchenvorsteher, der eilends die gegenüberliegende evangelische Gemeinde anstrebt, kommt vorbei, sieht ihn liegen, geht schnell vorüber. Auch er hat momentan Höheres im Sinn, die letzte Chorprobe vor Weihnachten steht an. Und dann kommt das Überraschende. Noch einer nähert sich, einer, der sein Geld als Tagelöhner bei der Sanierung des ungarischen-reformierten Pfarrhauses im Nachbarort verdient, ein Zigeuner, selbst schmutzig, geht zu ihm, beugt sich hinunter. Er nimmt seine Flasche mit Zuika (rumänischer Pflaumenschnaps), wäscht die Wunden, hebt ihn auf seinen Pferdewagen, lässt ihn im nahegelegenen Spital gesund pflegen - gegen eine Extrazahlung in Form eines Fotoapparates, den er gerade heute einer westlichen Touristin aus der Tasche gezogen hatte ... Ein Zigeuner ist es, der etwas begriffen hat, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen."

Obwohl sie mit 1-2 Millionen die größte Minderheit in Rumänien bilden und schon im 15. Jahrhundert auf heutiges rumänisches Territorium gelangten, sind  Zigeuner hier gleichsam ewig Ausländer geblieben und werden weithin geächtet. Schon nach dem Tod Ceausescus wurde klar, dass ihre Integration in die rumänische Gesellschaft nie vollendet worden war, obwohl die Roma nicht mehr nomadisieren und häufig ihre Sprache nicht mehr sprechen. Trotz ihrer Assimilierung wurden Zigeunersiedlungen das Ziel fremdenfeindlicher Übergriffe. Heutzutage werden sie mehr und mehr zu Sündenböcken für die schwierige Übergangsphase nach der Wende gemacht. Denn Fakt ist, dass sich die allgemeine soziale Enttäuschung in einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber der Minderheit der Roma äußert, wie wir es bei unserer Arbeit mit verlassenen Zigeunerkindern schon vielfach am eigenen Leibe zu spüren bekommen haben. Meines Erachtens kommt die Pointe in Jesu Geschichte vor dem Hintergrund des Nationalitätenkonfliktes in Rumänien auf ganz neue Weise zum Ausdruck: Wer nicht nur auf die Werte seiner eigenen Kultur-, Sprach- und Religionsgemeinschaft pocht, trägt zu einem friedlichen Miteinander der verschiedenen Volksgruppen bei. So ließe sich die Geschichte sicherlich noch auf vielfältige Weise fortschreiben. Man stelle sich Hilfstransporte von Russen nach Kabul vor oder von Albanern nach Belgrad.

6. "Soziales Handeln im Horizont der kommenden Gottesherrschaft - Die Wohltätigkeitsforderung als Zentrum der Reichen-Armen-Thematik bei Lukas"
So lautet der Titel meiner neutestamentlichen Seminararbeit über das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte, die ich den rumänischen Heimkindern Puiu, Rudi, Liviu, Pintea, Gigi und Vasile gewidmet habe. Wie eng mein Theologiestudium mit den Erfahrungen in Rumänien verwoben ist, zeigt nicht zuletzt das Vorwort dieser Arbeit, aus dem ich zum Schluss dieser Gedankengänge einen Ausschnitt zitieren möchte: Die Theologie des Lukas, insbesondere seine Anweisungen für ein gutes soziales Handeln, habe ich dank eines Seminars ... näher kennen und vor allem schätzen gelernt. Auf das Thema der vorliegenden Arbeit bin ich jedoch nicht nur im Rahmen meines bisherigen Theologiestudiums gestoßen, ... sondern auch durch meinen persönlichen Einsatz bei rumänischen Waisenkindern. In Rumänien ist die Kluft zwischen Arm und Reich inzwischen so hoch, dass man dort mit wirklicher Armut, sog. absoluter Armut, auf Schritt und Tritt konfrontiert wird - vor allem bei der Volksgruppe der Roma. Die wirtschaftliche Not führt in der Folge zu sozialer Ausgrenzung, z.B. in der Weise, dass besonders arme Familien gezwungen sind, ihre Kinder auszusetzen. Gewidmet habe ich diese Arbeit deshalb auch einigen der rumänischen Jungen, die mir ans Herz gewachsen sind. Sie stehen stellvertretend für alle diejenigen Kinder, die aus ökonomischen Existenznöten heraus von ihren Angehörigen in ein Heim abgeschoben und zu Sozialwaisen gemacht worden sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist für mich das Thema eines sozialgerechten Umgangs mit Besitz, das Lukas in seinem Doppelwerk zur Sprache bringt, hochaktuell und bedeutsam für die theologische Reflexion sowohl meiner eigenen Sozialpraxis als auch der von Kirche und Diakonie. (Heidelberg, Juni 2001)