"Stachel und Sauerteig" - Zur gesellschaftlichen Rolle der Bürgermedien

Ausschnitte eines Vortrags von Prof. Dr. Ulrich Sarcinelli bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 12.10.2012 in Stuttgart:

"Bürgerbeteiligung, Bürgergesellschaft, das scheinen inzwischen Zauberformeln zu sein, die bei keiner staatstragenden Rede fehlen dürfen. Es gibt eine Wiederentdeckung des Bürgers und man stellt sich die Frage, ob es bei dem Dauerplädoyer für eine demokratische Bürgergesellschaft um mehr geht als um schöne rhetorische Floskeln, um mehr als um den üblichen politisch-korrekten ‚Polit-Sprech‘.

(...) Mit der Beschwörung der Bürgergesellschaft als Zukunftsszenario erscheint (...) eine Art Gegenmodell am Horizont auf, ein Gegenmodell zur Staatsgesellschaft. Allein dies ist mit Blick auf unsere staatszentrierte Tradition in Deutschland schon bemerkenswert. (...) Bekanntlich war 1949 das Misstrauen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gegenüber dem eigenen Volk sehr groß. Und dieses Misstrauen war nicht nur berechtigt. Es hat auch über lange Jahre eine Tradition begründet, in der die Bürger zur Politik auf Abstand gehalten wurden. Teilnahme an Wahlen ja, Engagement in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen Großorganisationen ja, aber alles was darüber hinausgeht, war zunächst eher skeptisch gesehen. (...) Das hat sich gründlich geändert. Der Bürger ist gefragt. (...) Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement, das scheinen inzwischen Konsensformeln, die in Frage zu stellen keiner wagt.(...)

Wir leben in einer Zeit des Zweifels. Passend wie zu allem gibt es auch dazu ein schönes Goethe-Zitat: "Mit dem Wissen wächst der Zweifel". In der Tat: Das Informationsangebot explodiert, unser Wissen nimmt zu und zwar exponentiell. Doch Gewissheit, die Fähigkeit zur Einschätzung des Wissens, zur Beurteilung der Qualität der Information, das nimmt dramatisch ab. (...) Kein Wunder also, dass Verunsicherung und Zweifel um sich greifen, auch ganz grundsätzliche Zweifel an der Legitimität unseres politischen Systems. (...) Was aber sind die tieferen Gründe für wachsende Legitimitätszweifel?

Ich sehe drei Begründungszusammenhänge: die Veränderungen in unserer politischen Kultur, einen Wandel im Staatsverständnis sowie Entwicklungen im Mediensystem selbst.

Zum ersten Punkt, dem Wandel in der politischen Kultur. Die empirischen Befunde dazu kennen Sie: Mitgliederschwund in Großorganisationen, Rückgang konventioneller Beteiligungsformen, schleichende Organisationsauszehrung, wie überhaupt eine nachlassende Bindekraft aller für politisch-weltanschauliche Verankerung relevanten Institutionen. Das gilt vor allem für die Akteure, die für die Sphäre des Öffentlichen von zentraler Bedeutung sind: Parteien in erster Linie, aber auch Gewerkschaften, Kirchen u. a. Institutionen; übrigens auch Parlamente. Wir beobachten eine grundlegende Veränderung mit einem Verhaltensmuster, das man so umschreiben könnte: gesteigertes mitreden wollen, ohne unbedingt dazugehören zu müssen. Salopp gesprochen: Dabei sein ist alles, dazugehören – das muss nicht unbedingt sein! – Warum ist das so?

In der individualisierten Gesellschaft werden gesellschaftliche und politische Überzeugungen zunehmend subjektiv. Sie geraten verstärkt in Abhängigkeit zu individuellen Bedürfnissen und Lebensverhältnissen (...)

Wenn die Beobachtung zum veränderten politischen Verhalten – dabei sein ohne sich fest binden zu lassen – richtig ist, dann bedarf es neuer institutioneller Arrangements, neuer Angebote, neuer Spielfelder der Kommunikation und Beteiligung der Bürger an der Willensbildung: niederschwellig, kurzfristig, themen- und projektbezogen, eher unverbindlich als dauerhaft verpflichtend, eher von individuellen Interessen ausgehend als an großen Gesellschaftsentwürfen orientiert. Erwartet wird von den Bürgern in stärkerem Maße ein Mix von Beteiligungsformen, angepasst an spezifische Bedürfnisse und Lebensverhältnisse. Hier sind die etablierten Massenmedien ebenso wie die Großorganisationen ein eher schlechtes Forum für Engagement und Beteiligung.

Der zweite Punkt, der für die Öffnung der gesellschaftlichen und politischen Willensbildung, für mehr Kommunikation und Beteiligung spricht, betrifft den Staat selbst.(...) Dies ist ein Staat, der nicht (mehr) über das "Monopol ... zur Gemeinwohlkonkretisierung" (...) verfügt; ein Staat, der die Kooperation mit gesellschaftlichen Gruppen, mit privaten Akteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft braucht; kurz: ein Staat, der mehr denn je auf den aufgeklärten und engagierten Bürger setzt, um seine Aufgaben zu erfüllen und um den Erwartungen der Menschen gerecht zu werden; ein Staat, der deshalb auch mehr denn je auf Kommunikation und Partizipation angewiesen ist.

Der dritte Punkt, der für einen Bedeutungszuwachs von Kommunikation und Bürgerbeteiligung spricht, ergibt sich aus der dynamischen Veränderung des Mediensystems selbst. Mehr denn je ist Medienpräsenz eine Machtprämie, gilt Publikumsresonanz als eine wichtige Ressource in der Gesellschaft; mehr denn je ist Politik ganz wesentlich ein Kampf um Aufmerksamkeit. (...) Gegen die veröffentlichte Meinung kommt man nur schwer an. Aber: hier ändern sich die Verhältnisse. Der Medienwandel reflektiert nicht nur die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen, sondern dynamisiert sie zugleich. Die moderne Technologie – Stichwort Digitalisierung, Internetisierung von Kommunikation, Web 2.0 – das alles führt zur Beschleunigung von Informationsaustausch, Kommunikation und Interaktion. Das erhöht freilich auch den Reiz-Reaktion-Druck in der Politik. Zwar haben wir in Deutschland etwa im Vergleich zu den USA eine insgesamt noch relativ differenzierte Medienlandschaft. Gleichwohl sind auch hierzulande bestimmte Megatrends unverkennbar: Die Zunahme von Anbietern, eine fortschreitende Individualisierung von Nutzungsformen vor allem im elektronischen Bereich und ein wachsender Kommerzialisierungsdruck.

Hinzu kommt eine Differenzierung von Printangeboten bei gleichzeitiger Konzentration der tagesaktuellen Medien; und das alles mit Besitzerverhältnissen in verschachtelten Medienkonglomeraten. Dabei verstehen sich inzwischen die großen Medienhäuser als Content-Provider, die ihre Medienprodukte auf allen möglichen Plattformen anbieten. Insgesamt ist die mediale Landschaft damit in Deutschland nicht nur unübersichtlicher geworden. Wichtiger noch: Die Entwicklung führt auch dazu, dass sich das Verhältnis zwischen Medien und Politik entkoppelt. Die Logik des Marktes schafft Distanz zum politischen System, zu seinen Akteuren und Institutionen. Mehr denn je kommt es auf Publikumsresonanz an, auf Reichweite, auf verkaufbare Werbezeit und entsprechende Werbeflächen. Kurz: Es geht um die Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit.

Wo einmal weltanschauungsfeste Verlegerpersönlichkeiten politische Vorgaben machten, sitzen heute Betriebswirte. Die medialen Verhältnisse sind damit insgesamt unberechenbarer geworden. Salopp ausgedrückt: Relevant ist nicht zwingend, was dem Gemeinwohl dient. Relevant ist vor allem, was das zahlende Publikum erwartet. Das wirkt sich dann auch auf das aus, was "Nachrichtenwert" hat entspricht. Und weil sich das Publikum in kleiner werdende Teilpublika zerstreut, versucht man es mit immer stärkeren Reizen zu erreichen. Boulevardisierung, Skandalisierung, Rudeljournalismus, konzertiertes Rauf- und Runterschreiben etc. sollen als Stichworte genügen. Das alles sind Entwicklungen, die Zweifel begründen, ob die Massenmedien ihrer Orientierungsfunktion für die Gesellschaft und Demokratie auch in Zukunft noch gerecht werden.

Natürlich bedürfte es hier der Differenzierung; bedürfte es der Unterscheidung zwischen seriösen und weniger seriösen Medien; zwischen anspruchsvollen und wenig anspruchsvollen Druckerzeugnissen. (...) Dennoch sprechen die hier skizzierten Punkte für eine andere, für stärker bürgergesellschaftlich durchwirkte Kommunikationskultur. (...)

Notwendig ist (...) eine Kommunikationskultur, die sich nicht ausschließlich am Nachfrageprinzip und an der Logik des Marktes orientiert; eine Kommunikationskultur, die der Vielfalt individueller und gesellschaftlicher Gestaltungsangebote – auch – Raum gibt; eine Kommunikationskultur schließlich, die die Infrastruktur für einen freien Gestaltungsraum bereit stellt. Es geht um Spielräume für Information und Kommunikation, die mit den herkömmlichen Messgrößen von Einschaltquoten und Kaufzahlen nie konkurrenzfähig sein können und auch nicht sein sollten.

Dies, m.D.u.H., scheint mir der eigentliche Begründungskontext für Bürgerrundfunk. Und dieses gesellschafts- und demokratietheoretisch durchaus relevante Argument sollte offensiver vertreten werden.

Denn sind wir ehrlich: Die Gründung von Offenen Kanälen, von Lokalradios und Bürgerrundfunk war ja ursprünglich keine medienpolitische Herzensangelegenheit; einige wenige Idealisten ausgenommen. Wie war das damals? Die Frequenzknappheit als Legitimation für das öffentlich-rechtliche Monopol trug auf einmal nicht mehr. Am Horizont zeichnete sich in den Achtzigern eine duale Rundfunklandschaft ab, deren dynamische Entwicklung sehr stark durch Kommerzialisierung gekennzeichnet sein würde. Da war es dann schön, zur Beruhigung kritischer Gemüter eine geschützte Nische zu schaffen. Hier sollte der Bürger nicht Adressat, sondern selbst Autor sein. Die Bürger als Programmmacher, als Medienschaffende, als Subjekte und nicht als Medienobjekte. Eine schöne Idee oder nur ein politisches Alibi? In jedem Falle aber eine medienpolitische Chance! Was lernen wir aus all dem für die Bürgerradios? Ich will dazu abschließend fünf Thesen bzw. Stichworte vortragen:

1. Stichwort: Globalisierung (...) Das Globale bringt das Lokale nicht zum Verschwinden. Die Bedeutung lokaler Identität hat nicht abgenommen. Im Gegenteil, das Lokale ist "in", auch und gerade weil Globales und Lokales zusammenwachsen, weil die Verunsicherung wächst und es ein natürliches Bedürfnis ist, einen "Ort" nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch realiter zu haben. Globales und Lokales verbindet sich. Dafür gibt es ein schönes Kunstwort: Glokalisierung. (...) Ganz generell müssen wir feststellen: die Möglichkeiten auch des nichtkommerziellen Rundfunks, weit über das Lokale hinaus Resonanz zu erzeugen durch Information, Kommunikation und – mit Blick auf das Web 2.0 mit Hilfe der Sozialen Netzwerke – auch durch Interaktion, sind so groß wie nie zuvor und waren in den Anfängen so nicht vorauszuahnen. Das führt mich zum zweiten Punkt.

2. Medienkompetenz und journalistische Verantwortung: Die Spielräume und Leistungen von Bürgermedien als Medienkompetenzzentren, kann man nicht genug betonen! Viele profitieren davon. Das ist medienpädagogische Graswurzelarbeit. Oder pädagogisch gesprochen: handlungsorientiertes Lernen. Das sollte ausgebaut werden. Kooperationen mit Schulen und Hochschulen gibt es schon. Sie sollten ausgeweitet werden. Initiativen, Engagierte – seien es Wut- und Mutbürger – haben diese Möglichkeiten bisher nur vereinzelt entdeckt. Hier, in den Bürgermedien kann jedenfalls gelernt werden, wie man es macht, wie man mit moderner Medientechnik umgeht. Man wird dann aber auch lernen, dass Medienmachen nicht im rechtsfreien Raum stattfindet; dass es journalistische Prinzipien, dass es Qualitätsmaßstäbe gibt und dass bei aller freien Gestaltung Ethik und Verantwortung nicht einfach abgeschaltet werden, nur weil engagierte Bürger selbst am Mikrophon oder hinter der Kamera stehen.

3. Bürgermedien als Orte der Integration, ein dritter Aspekt. (...) Bürgermedien können einen Beitrag zur lokalen Identitätsbildung und zur gesellschaftlichen Integration in überschaubaren Kontexten leisten. Ausgegrenzte und Minderheiten können sich dieses Forums bedienen. Doch darf Integration nicht automatisch mit Konsens verwechselt werden. Moderne Gesellschaften werden nicht nur durch Konsens zusammengehalten, eigentlich immer weniger. Das gilt selbst für die lokale Ebene. Es gibt sogar Sozialwissenschaftler mit der gut begründeten Position, dass der "Kitt", der moderne Gesellschaften zusammenhält, nicht Konsens sondern Konflikt sei. Damit hängt meine vierte These zusammen.

4. Bürgerrundfunk als Forum und als Diskursraum. (...) In einer zunehmend differenzierten Gesellschaft brauchen wir (...) Kommunikationsnischen. Wir brauchen alternative Resonanzräume; wir brauchen frei zugängliche Bühnen für die Artikulation von Bürgerinteressen und Meinungen, die nicht dem Diktat von Nachfrage geschuldet sind, sondern dem Angebotsbedürfnis engagierter Bürger (...) Letztlich geht es also bei der Nutzung von Bürgermedien um die Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen, die nicht gleich einer massenmedialen Verwertungslogik unterworfen sind.

5. Bürgerrundfunk als demokratisches Partizipationsangebot (...) Nicht kommerzielle Bürgermedien spielen dabei – gesamtgesellschaftlich gesehen – sicherlich eine eher nachgeordnete Rolle. Ich würde diese Rolle aber nicht unterschätzen. (...) Bürgermedien als "Stachel im Fleisch" der etablierten Medien oder vielleicht etwas pädagogisch-konstruktiver ausgedrückt: Bürgermedien als "Sauerteig" einer demokratischen Gesellschaft. Ob Stachel oder Sauerteig, beide Rollenzuschreibungen schließen sich nicht aus.

Wir, unsere Gesellschaft, unser freiheitliches Gemeinwesen braucht beides und wir sollten uns beides leisten, die nicht-kommerziellen Bürgermedien als "Stachel im Fleisch" und als "Sauerteig", der in vielen Bereichen aufgeht. Trotz aller Einsparungen finanzieren wir Theater, Opern, Konzerthäuser und andere Kultureinrichtungen mit zum Teil exklusiver Nachfrage, weil eine reiche Kulturlandschaft mehr ist als ein ökonomischer Standortfaktor. Nicht weniger essentiell für unser Gemeinwesen ist aber auch eine lebendige demokratische Bürgerkultur, in denen die Bürgermedien ihren Platz haben. Die Mittel dafür sind ohnedies im Vergleich zur subventionierten E-Kultur ziemlich bescheiden.

Mein abschließender Wunsch gilt den Bürgermedien als zivilgesellschaftlichen Foren, als Diskursräume und Partizipationschance – als "Stachel im Fleisch" einer ‚offenen Gesellschaft’ (Karl Popper) und als "Sauerteig" für eine lebendige Bürgerkultur.""

Kompletter Text des Vortrags hier

Prof. Dr. Ulrich Sarcinelli
www.uni-koblenz-landau.de/uni/universitaetsleitung/mitarbeiter/u-sarcinelli

Bericht "Brauchen wir überhaupt Bürgerfunk?" | Radio free FM

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