"Mehrheit entscheidet" bestimmt die bayerische Verfassung von 1946, und auch andere "alte" LandesverFassungen aus jener Zeit, nämlich die Verfassungen von Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen legen fest, daß beim Volksentscheid die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheidet.
Seit 1990 haben wir, beginnend just mit Schleswig-Holstein, geradezu einen Siegeszug der Institutionen direkter Demokratie erlebt. Nachdem zuletzt Hamburg 1996 Volksbegehren und Volksentscheid eingetührt hat, gilt direkte Dernokratie in Deutschland auf Landesebene flächendeckend. So erfreulich diese Entwicklung grundsätzlich ist, hat sie doch auch eine Schattenseite. Fast durchweg haben die neuen bzw. revidierten Landesverfassungen ein etwas anderes System der Volksgesetzgebung eingeführt und insbesondere für den abschließenden Volksentscheid ein sogenanntes Zustimmungsquorum festgesetzt: Es genügt für einen Erfolg nicht, daß an den Urnen mehr Ja- als Nein-Stimmen abgegeben werden; zusätzlich muß die Zahl der Ja-Stimmen mindestens 25% der Stimmberechtigten ausmachen. Eine rühmliche Ausnahme bildet hier die sächsische Verfassung von 1992.
Daß hinter diesen Regelungen gute Absichten stehen, soll durchaus angenommen werden. Man will den Legitimationszweifeln vorbeugen, die unvermeidlich aufkommen, wenn ein allzu kleiner Teil der Bevölkerung (obschon mit relativer Mehrheit) Entscheidungen fällt, die für alle gelten sollen. Ubersehen wird dabei, daß ein Zustimmungsquorum für dieses Ziel ungeeignet ist, ja sogar eine Fehlsteuerung bewirkt: Alle Desinteressierten und Unschlüssigen werden rechnerisch wie eine NeinStimme gezählt, kommunikative Abstinenz - sich gar nicht auf den Volksentscheid und sein Thema einzulassen wird prämiert, und schlimmstenfalls, wofür es historische Beispiele gibt, laden Quoren zur Sabotage des Verfahrens durch Boykott ein.
Die Folgen des Quorums:Tiefe Frustration aller Beteiligten, ein Rückschlag:für künftiges potitisches Engagement und eineBeschädigung der politischen Kultur schlechthin.
Praktische Erfahrungen mit dem System der alten Landesverfassungen gibt es nur in Bayern. An den Volksentscheiden zur Eintührung der Christlichen Gemeinschaftsschule: 1968, zur Sicherung der Rundfunkfreiheit 1973, über das Abfallrecht 1991 und zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids 1995 beteiligten sich 40,7%, 23,3%, 43,8% und 36,8% der Stimmberechtigten. Die jeweils angenommenen Gesetzentwürfe wurden, wiederum auf die Stimmberechtigten bezogen, von 29,9%, 20,0%, 22,4% und 21,2% "getragen". Diese Zahlen können nur auf den ersten Blick erstaunen. Tatsächlich darf man bei Volksentscheiden keine überzogenen Partizipationserwartungen hegen. Eine einzelne Sachfrage wird niemals so viele Bürger mobilisleren wie allgemeine Wahlen, bei denen über das Gesamt der Politik entschieden wird und noch das Spannungsmoment der Personalkonkurrenz hinzukommt.
Wenn sich also jetzt am 30. November 1997t beim Volksentscheid über die Erhaltung des Buß- und Bettages in Schleswig~ Holstein 29,3 % der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligten und die Ja-Mehrheit 19,9 % der Stimmberechtigten ausmachte, sind das grundsätzlich völlig normale Werte. In Bayern wäre ein entsprechendes Gesetz ohne weiteres zu verkünden gewesen. Nach dem in Schleswig-Holstein aufgesteliten Regelwerk sehen wir dagegen, ungeachtet erster gezwungen wirkender Statements, tiefe Frustration aller Beteiligten, einen Rückschlag für künffiges politisches Engagement und eine Beschädigung der politischen Kultur schlechthin.
Nicht die Initiatoren des Volksgesetzgebungsverfahrens und nicht die fast 620.000 Aktivbürger, sondern die Verfahrensregeln haben in Schleswig-Holstein versagt. Wenn ein Volksentscheid stattfindet, muß er auch eine Entscheidung des Volkes in der Sache erbringen. Es geht nicht an, daß man Hunderttausende Bürger zum Gang an die Abstimmungsstellen bewegt, und dann verläuft das Ganze auf der Verfahrensebene im Nichts. (Wie absurd dies werden kann, mag eine "Weimarer Erfahrung" zeigen:
Der erste deutsche Volksentscheid auf Reichsebene zur "Fürstenentergnung 1926 - scheitette trotz 14,5 Millionen Ja-Stimmen nach der Verfahrensordnung "mangels Beteiligung".
Die Lösung ist bekannt. Damit sich hinreichend Bürger an einer Abstimmung beteiligen, müssen die Verfahrensregeln gerade umgekehrt konstruiert werden,als es beim Zustimmungsquorum der Fall ist: Anzusetzen ist nicht bei den engagierten Befürwortern, weil diese ohnehin zur Abstimmung gehen. Angesetzt werden muß bei den Sachgegnern; aber sie darf man nicht zur Passivität verleiten, sondern man muß sie zum Gang an die Urne motivieren. Das ist möglich, indem auf ihr unerwünschtes Verhalten - eben die Passivität - nicht eine "Prämie", sondern eine Sanktion gesetzt wird: Ein Sach gegner, der zu Hause bleibt, darf nicht mit dem Scheitern des plebiszitären Projekts belohnt werden. Man muß, damit er sich bewegt, ihm mit dem Erfolg der Befürworter - seiner Widersacher - drohen, indem gerade keine Quoren beim Bürgerentscheid festgelegt werden.
Wie es dann weitergeht, liegt auf der Hand: Der Volksentscheid, bei dem "nur eine verschwindende Minderheit zur Abstimmung geht", ist bloß schlechte Theorie. In der Wirklichkeit duldet die politische Klasse kein Machtvakuum. Der Oppositionscharakter der Volksgesetzgebung markiert mit der Regierung und den sie tragenden Parteien Gegner, die doch nicht schmollen, sondern antreten. Quintessenz: Schafft man das Zustimmungsquorum ab, braucht man sich um die Beteiligung keine Sorgen mehr zu machen'
Im übrigen ist das nur fair und gerecht: Auch bei Wahlen gibt es ja keine Quoren, sQndern zählen allein die Stimmen derer, die an die Urnen komnnen und gültig wählen. Auch bei Wahlen kann man eben nicht durch Passivität Einfluß nehmen.
Otmar Jung ist Privatdezent an der Freien Universität Berlin.
Zeitschrift für Direkte Demokratie ¥ Nr. 38 . 1/98