Die fragwürdige Einstellung des Bundesinnenministeriums
Sie werden - und das wundert erst recht niemanden mehr - von dem für das Verfassungsrecht zuständigen Innenministerium, dem ich ja selbst einmal angehört habe, vertreten. Dieses sagt, ganz kurz zusammengefaßt, das Wort "... und Abstimmungen" bezöge sich nur auf die Artikel 29 bzw. 118 des Grundgesetzes, bei denen es um die Neugliederung der Länder geht, denn dafür seien Volksentscheide ausdrücklich im Grundgesetztext erwähnt.
Es gibt wahrscheinlich nichts Dummes, Unrechtes, Unlogisches, das von Juristen nicht zu Gescheitem, Logischem und Rechtmäßigem verbogen werden könnte. In un serem Fall geht es um eine der wichtigsten und an hervorragendster Stelle stehende Ver fassungsvorschrift, die so behandelt wird, als würde sie nur nebensächliche, temporär und lokal relevante Bestimmungen abstützen. Einen solchen, von höchsten Ministerialbeam ten ausgearbeiteten und von Herrn Zimmermann unterschriebenen Unsinn müssen wir uns gefallen lassen! Auf diesem Unsinn beruhte auch die ablehnende Stellungnahme des Petitionsauschusses des Bundestages und der Fraktionen gegen unseren Antrag! Über legen Sie: Artikel 20 ist ein hervorgehobener Verfassungsartikel, der die ganzen Grund lagen unserer staatliche Ordnung regelt; er ist wohl neben dem Satz 1 von Artikel 1, "Die Würde des Menschen ist unantastbar", der wichtigste Satz im ganzen Grundgesetz. Und da kommt man uns mit "Ländergrenzen"!
Und selbst wenn dieser in seiner Einfalt kaum zu übertreffende Einwand gegen den Volksentscheid stichhaltig wäre, es hülfe seinen Gegnernichts: dieAbstimmungen stehen im Grundgesetz, und wir wollen sie haben!
Unredliche Verfassungsrechtler
Nun gibt es noch raffiniertere, in Wahrheit noch unredlichere, Verfassungsrechtler. Sie behaupten nämlich in etwa, die Abstimmungen seien eigentlich nur mehr zufällig und aus Versehen im Text stehengeblieben. Man habe sozusagen bei der Schlußredaktion verges sen, sie zu streichen. Sie würde auch dem übrigen Geist der Verfassung, der ganz aurdie repräsentative Demokratie abzielt, widersprechen. Abgesehen davon, daß auch das kein Argument wäre - denn was drin steht, steht drin -, ist es entweder eine bewußte Lüge oder derjenige, der das behauptet, ist ein Ignorant, sei er auch ein noch so berühmter Verfas sungsrechtler. - Es gibt allerdings auch verständigere Verfassungsrechtler oder -richter, wie Helmut Simon und Rudolf Wassermann, oder sogar den früheren Innenminister Maihofer, der sich 1983 entschieden für den Volksentscheid eingesetzt hat. "Soviel Plebiszit wie möglich, soviel Repräsentation (Parlament) wie nötig" (Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1983, S.1410 f.).
Ich persönlich habe sämtliche Protokolle der zuständigen Ausschüsse des Parlamen tarischen Rates im Archiv des Bundestages durchgesehen und eindeutig festgestellt: Im Gegensatz zu den Behauptungen der "herrschenden Lehre" ist mit diesen beiden ent scheidenden Worten ". .. und Abstimmungen" genau das gemeint, was wir, die wir für den Volksentscheid kämpfen, meinen. Es war nämlich in einer der letzten Sitzungen des zuständigen Ausschusses so, daß der Vertreter der CDU, Dr. von Mangoldt, ausdrücklich verlangte, daß es nicht genüge, in Artikel 20 Abs. 2 nur die erwähnten "besonderen Organe" aufzunehmen, sondem daß auch die Volksabstimmung vorzusehen sei. Dies bestätigte SPD-Vertreter Carlo Schmid energisch und definitiv: "Wir wollen kein Monopol für die repräsentative Demokratie".
Also kein Parteienmonopol, keinen Parteienstaat, nicht das, was wir jetzt haben und was inzwischen bis in die letzten Rundfunk- und Fernsehräte, bis in alle höheren Etagen derstaatlichenBetriebeunddieAufsichtsgremien allergroßenEnergieunternehmen, also auch der Kernkraftwerkbetreiber, hineingewuchert ist. Obwohl also die Lage vom Ursprung her ganz klar ist, haben wir bis heute noch keinen Volksentscheid.
Keine bitteren Erfahrungen von Weimar
Das hat zum großen Teil geschichtliche bzw. pseudogeschichtliche Gründe: Schon im Parlamentarischen Rat hat Theodor Heuss, den wir später als verehrten Bundespräsiden ten kennengelernt haben, argumentiert, die nach der Weimarer Verfassung zulässigen und durchgeführten Volksentscheide seien am Scheitern der ersten deutschen Demokratie und gar am Nationalsozialismus mitschuldig gewesen. Es gab in unserer jüngeren Geschichte kaum ein Argument, kaum eine Fälschung, die sich so verheerend in der Zukunft auswirken sollte, wie dieses. Dieses absolut falsche und nachweisbar wider besseres Wissen in die Diskussion eingeführte Pseudoargument geistert noch heute durch fast alle mündlichen und schriftlichen Äußerungen zum Volksentscheid; bei höchsten Politikern genauso wie bei Verfassungsjuristen und Historikern. Einer schreibt eben vom anderen ab, keiner macht sich die Mühe, der Sache auf den Grund zu gehen. "Die Sache" stützt ja auch so prächtig die vorgefaßte Meinung, Volksentscheide seien von Übel.
Die Wahrheit ist: Die sogenannten "bitteren Erfahrungen der Weimarer und NS-Zeit", eine wie gesagt ebenso oberflächliche wie falsche Standardbehauptung aller Ignoranten, gibt es im Hinblick auf Volksentscheide nicht. In der Weimarer Republik, deren Verfas sung Volksbegehren und Volksentscheide vorsah, gab es überhaupt nur zwei Volksbegehren, die bis zum Volksentscheid kamen (über den Unterschied zwischen beiden später). In beiden Fällen erlebten die Initiatoren einen eklatanten Reinfall. Im ersten Fall scheiterten die Linken mit dem Thema Fürstenenteignung (1), im zweiten die Rechtsextremen mit ihrem angestrebten Votum gegen den sogenannten Young-Plan (2). Diese zweite Volksabstimmungsaktion war von Hitler und dem damaligen Herrscher über alle natio nalistischen, chauvinistischen und kleinbürgerlich-spießigen Presseorgane, Hugenberg, mit ungeheurem demagogischen Aufwand vorbereitet worden. Trotzdem scheiterte sie; ein Beispieldafür,daßauchmitvielGeldundschlimmsterDemagogiesichdasVolknicht dazu verführen läßt, gegen seine eigenen Interessen zu votieren. Was dann nach 1933 kam, muß wieder unter anderen Gesichtspunkten beurteilt werden.
Das Fazit ist jedenfalls: die Behauptung, die Weimarer Republik sei durch Volksent scheide ruiniert worden, ist entweder unsäglich ignorant oder - das ist in den meisten Fällen wahrscheinlicher - eine bewußte Geschichtsklitterung zu Ungunsten des Wahlvolkes. Das Gegenteil ist richtig! ! ! Vielleicht wäre sogar die Institution des Volksentscheids die einzige Möglichkeit gewesen, Hitler zu verhindern, etwa so, wie ein Generalstreik den Erfolg des militaristisch-chauvinistischen Kapp-Putsches im März 1920 verhindert hatte. Professor Chr. Pestalozza hat es auf den Punkt gebracht: "Weimar ist sicher eher am Parlamentarismus zerbrochen als an der direkten Demokratie". Diese Beispiele sind außerdem ein starkes Indiz dafür, daß Demagogie beim Plebiszit keine größere Gefahr ist als im parteiparlamentarischen System. Mit diesem Argument wird nämlich auch häufig gearbeitet.
Ausgerechnet Theodor Heuss, der als Bundespräsident in Unkenntnis seines wirklichen Verhaltens während seiner langen Politikerlaufbahn auch für mich eine bewunders werte Leitfigur war, war es, der im Parlamentarischen Rat immer wieder massiv gegen die Aufnahme der Volksabstimmung in den Artikel 20 polemisiert hatte. Ausgerechnet er hätte den meisten Anlaß gehabt, sich zurückzuhalten, denn erstens hat er ja die beiden gescheiterten, also keineswegs für den Mißerfolg der Weimarer Demokratie verantwort lichen Volksbegehren als Politiker selbst miterlebt, zweitens hat er durch seine Zustim mung zu dem Gesetz, das dann Hitler freie Hand für alle künftigen Verbrechen gegeben hatte, zum Ermächtigungsgesetz, selber geschichtliche Schuld auf sich geladen und drittens hat er, wie gesagt, im Parlamentarischen Rat wider besseres Wissen, aber vielleicht mit nicht sehr gutem Gewissen, gegen den Volksentscheid polemisiert; und er war der "Liberale", dem sogar der CDU-Vertreter widersprach!
Was aber die sogenannten Volksabstimmungen im Dritten Reich angeht, so sind die Behauptungen hochgestellter Politiker, wie die des FDP-Fraktionsvorsitzenden Misch nik, diese seien ein Beispiel für die Gefahren von Plebisziten, geradezu grotesk. Sie sind bewußte Schutz- und Abwehrbehauptungen gegen alle Bestrebungen der direkten Demokratie, denn die von Hitler/Goebbels inszenierten sogenannten Volksabstimmun gen (mit einem Ergebnis von meistens nahe bei 100 %) haben doch nicht das Geringste mit einer echten plebiszitären Demokratie zu tun. Sie waren im Gegenteil ein raffinier tes, mit allen demagogischen Mitteln der Massenpsychologie inszeniertes Spektakel, mit dem man durch scheindemokratisches Getue "beweisen" wollte, daß das Volk nahezu hundertprozentig hinter dem "Führer" steht.
All das sind bewußt oder aus Unkenntnis in die Welt gesetzte Geschichtslegenden, die von interessierter Seite, hauptsächlich von den "etablierten Parteien", und unter ihnen wieder hauptsächlich von der CDU/CSU, aus durchsichtigen Gründen in die Welt gesetzt wurden, wobei ihnen hilfreiche Verfassungsrechtler zur Hand gingen. Würde doch eine durch ein Bundesabstimmungsgesetz emmöglichte Volksgesetzgebung die angemaßte und im Grundgesetz so nicht vorgesehene Allmacht der Parteien ebenso einschränken wie den Einfluß von Interessenverbänden aller Art? Diese Aussicht schafft der Bewegung für einen Volksentscheid natürlich viele Feinde, auch in den öffentlichen und privaten Medien, denn Joumalisten pflegen nicht selten ihre Argumente ohne größere Nachprüfung von anderen zu übernehmen.
Deshalb wurden zwei Petitionen [ mit mehren Millionen Stimmen] der Aktion Volksentscheid beim Petitionsausschuß des Bundestages abgelehnt (entsprechend dem grotesken Fehlgutachten des Innenministeriums), deshalb schießen alle Rechten beider großen Parteien gegen den Volksentscheid.
Es gibt allerdings neben bewußt oder unbewußt falschen, läppischen und ignoranten Einwänden gegen den Volksentscheid auch ernstzunehmende, nachdenklich machende Gründe, und es darf nicht verschwiegen werden, daß die Volksgesetzgebung auch gewisse Risiken mit sich bringt, die heutenoch nicht genau abzuschätzen sind. Aber darauf komme ich noch zurück.