Hans Herbert von Arnim: Das Parteienkartell lähmt die Republik


Aus: Die Welt vom 27.07.2002

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Der Verfasser ist Professor für Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der

Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Die zwölf Thesen beruhen auf seinem jüngsten Buch "Das System.

Die Machenschaften der Macht", Droemer Verlag München.

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1. Lange hat der Ost-West-Gegensatz eine kritische Diskussion des

Parteienstaates im Westen erschwert, war er doch im Vergleich zum

Kommunismus immer noch die bessere Alternative. Erst der

Zusammenbruch des östlichen Totalitarismus hat den Weg für eine

unbefangene Kritik des bundesdeutschen Systems freigemacht.

Nun konnte man den Kritikern nicht

mehr vorwerfen, sie würden dem Kommunismus in die Hände arbeiten:

Skandalöse Vorkommnisse der letzten Jahre haben weitere Anstöße zur

kritischen Reflexion gegeben. Die Flick-Affäre, das "System Kohl", der

Berliner Landowsky-Skandal, der Spenden- und Korruptionssumpf in Köln und

Wuppertal sind ja in Wahrheit keine Einzelfälle, sondern krasse

Erscheinungsformen eines - normalerweise sorgfältig verborgenen -

Schattensystems hinter der offiziellen Fassade.

 

2. Das Grundgesetz und die öffentliche Meinung verlangen, dass alle

Amtsträger sich am Gemeinwohl orientieren. In Sonntagsreden wird auch die

Politik selbst nicht müde, dieses Ziel zu beschwören. Tatsächlich pflegen

Berufspolitiker aber vor allem ihren Eigeninteressen zu folgen und bilden

insofern eine "politische Klasse". Politik ist - immer schon - vorrangig

Kampf um Macht, Posten und Geld.

 

3. Machtstreben ist allerdings nichts unbedingt Schlechtes. Solange die

Politik nämlich für neue Kräfte offen ist, halten die konkurrierenden Lager

sich einigermaßen in Schach, und der Wettbewerb zwingt sie, sich an den

Wünschen der Wähler auszurichten. Doch in der Bundesrepublik ist der

Wettbewerb massiv eingeschränkt, so dass auch seine Steuerungsfunktion

verloren geht. Wie Unternehmer in der Wirtschaft, so neigen auch Politiker

zur Bildung von Kartellen, die sich wie ein lähmendes Netz über die

Republik legen.

 

4. Ursächlich für schlechte Politik sind vor allem Mängel des Systems, und

auch dafür sind die Parteien und ihre politische Klasse verantwortlich.

Diese sind nämlich nicht nur Teilnehmer am politischen Kräftespiel. In

parteiübergreifender Einigkeit gestalten sie vielmehr auch die Spielregeln,

also den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen Politik sich abspielt.

Sie sitzen mitten im Staat an den Hebeln der Macht und entscheiden über

Gesetze und Haushaltspläne, ja sogar über die Verfassung. Sie haben das

Monopol über alle wesentlichen Entscheidungen. "Volkssouveränität", wie sie

die Verfassung proklamiert, ist nur noch ein schöner Schein. Damit liegt

das ganze System in den Händen der politischen Klasse und wird nach ihren

Interessen geformt. Warum auch sollten Berufspolitiker sich ausgerechnet

dann nicht von ihren Eigeninteressen leiten lassen, wenn es um das in ihren

Augen Wichtigste geht, nämlich darum, wie politische Macht erworben und

behalten wird? Mängel und Deformationen, unseres Systems sind also nicht

vom Himmel gefallen, sondern das Werk jener, die sich im Zentrum der Macht

eingerichtet haben.

 

5. Beispiele für systemverändernde politische Kartelle sind

selbstbewilligte Steuergelder für Parteien und üppige Versorgungen von

Politikern. Die deutschen Parteien haben ihre Subventionierung als Erste in

Europa eingeführt und, nachdem das Bundesverfassungsgericht dem

anschwellenden Strom Grenzen gezogen hatte, leiteten die Staatsmittel auf

ihre Parlamentsfraktionen und Parteistiftungen um, die heute mehr Geld

bekommen als die eigentlichen Parteien. Zusätzlich werden Hunderte von

Millionen für Abgeordnetenmitarbeiter bereitgestellt, die in Wahrheit für

Parteizwecke eingesetzt werden. Die Mitglieder der viel zu großen

Landesparlamente haben sich zu voll bezahlten und überversorgten

Berufspolitikern gemacht, obwohl ihre Aufgaben ständig abnehmen und sie

heute oft weniger zu tun haben als Großstadtvertreter. Auch gegen

massenhafte Postenschieberei mit ihren fatalen Wirkungen (wie

Verschlechterung und Aufblähung der Bürokratie und Vertrauensverlust der

Bürger) wird nichts Wirksames unternommen, weil alle Etablierten sie unter

der Hand selbst praktizieren und sich so den Staat zur Beute machen.

Ähnlich ist es mit politischer Korruption im weitesten Sinn. Parteien

können (nach selbst gemachten Gesetzen) "ganz legal" bestochen und

Abgeordnete gekauft werden.

 

6. Sogar das Königsrecht der Bürger in der Demokratie, das Wahlrecht, hat

die politische Klasse zu ihren Gunsten manipuliert: Bedingt durch selbst

gemachte Wahlgesetze stehen die meisten Parlamentsabgeordneten schon lange

vor der Wahl fest. Für Kandidaten, die die Parteien auf "sichere Plätze"

gesetzt haben, ist die Volkswahl nur noch Formsache. Sogar wer die

Regierung und den Kanzler stellt, entscheiden meist nicht die Wähler,

sondern die Parteien durch Koalitionsvereinbarungen nach der Wahl. Ob die

FDP nach dem 22. September eine Koalition mit der SPD oder der Union

eingeht, lässt sie erklärtermaßen offen. Genau davon hängt aber

wahrscheinlich ab, ob Schröder oder Stoiber die neue Bundesregierung führen

wird. Durch die Vielzahl von Wahlen wird den Bürgern zwar suggeriert, sie

hätten unheimlich viel zu sagen. Doch in Wahrheit trifft die politische

Klasse die Schlüsselentscheidungen ganz allein. Die Folge des schleichenden

Demokratieverlustes ist eine Verflüchtigung der politischen Verantwortung

der Repräsentanten gegenüber dem Volk.

 

7. Zur organisierten Unverantwortlichkeit trägt auch ein pervertierter

Föderalismus bei: Den wichtigsten Bundesgesetzen muss der Bundesrat

zustimmen. Der aber ist mehrheitlich meist in der Hand der Opposition. Wen

soll der Wähler, der die Gesetzesprodukte von Regierung und Opposition

ablehnt, dann noch wählen? Wie kann er seiner Unzufriedenheit hoch sinnvoll

Ausdruck geben? Auch auf Landesebene werden fast alle Fragen in

länderübergreifenden Gremien der Kultusministerkonferenz abgestimmt, die

einstimmig entscheidet. Wenn aber alle Verantwortung tragen, trägt sie

niemand wirklich. Damit versagt das Steuerungsinstrument Wettbewerb auch

hier.

 

8. Die Konsequenzen könnten nicht gravierender sein: die Probleme des

Gemeinwesens werden nicht gelöst, und der "Reformstau" wächst. Stattdessen

ergeht sich die Politik - durch bestimmte Medien begünstigt - in

Inszenierungen und symbolischer Politik. Das "So tun als ob"-Prinzip"

feiert Triumphe. So hat die Pisa-Studie zwar zu einem öffentlichen

Aufschrei geführt Doch dass etwas Durchgreifendes geschieht, muss

bezweifelt werden. Der schlechte Zustand unserer Bildungseinrichtungen ist

ja schon seit Jahren bekannt - spätestens seit der Timss-Studie. Und dass

die Hartz-Kommission ihre (in Wahrheit gar nicht so neuen) Vorschläge zur

Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erst am Ende der Wahlperiode vorlegt, kommt

der Politik nur zupass: Jetzt kann man Versprechungen machen, auch wenn man

sie nach der Wahl nicht hält: Roman Herzog hatte schon in seiner Berliner

Rede vom 26. April 1997 festgestellt, in Deutschland bestehe hinsichtlich

der nötigen Reformen kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Doch

die eigentlichen Ursachen für die mangelnde Reformfähigkeit, die auch

Herzog erst neuerdings (und fast nebenbei) anzusprechen wagt, werden in der

öffentlichen Diskussion sträflich vernachlässigt: die Mängel des Systems.

 

9. Die wahre Situation unseres Gemeinwesens auch nur zu erfassen wird durch

ritualisierte "politische Formeln" wie "Volkssouveränität" und

"Repräsentation" erschwert. Überkommene politische Theorien, die quasi als

Brillen fungieren, mit denen wir Staat, Demokratie und Politik wahrnehmen,

sind verzerrt. Ihre Vertreter stehen im Dienst des Systems und scheuen

sich, seine Mängel beim Namen zu nennen. Der Arm der politischen Klasse

reicht weit und beeinflusst die herrschende Denkweise von Staats- und

Politikwissenschaften. So hat der einflussreiche frühere Verfassungsrechter

Gerhard Leibholz großen intellektuellen Schaden angerichtet: Trotz (oder

gerade wegen) seiner überzogenen Parteienstaatslehre beriefen die Parteien

ihn ins Bundesverfassungsgericht, dem er anfangs seine Lehre ebenfalls

unterschob. Leibholz hatte Parteien, Staat und Volk gleichgesetzt und es

durch diese Fiktion ermöglicht, dass selbst Übergriffe der Parteien als

"demokratisch" verklärt wurden.

 

10. Die Parteien tun einerseits zu wenig, andererseits zu viel - und

jeweils an der falschen Stelle: Die Parteien haben die Rekrutierung des

politischen Nachwuchses bei sich monopolisiert, erfüllen diese wichtige

Aufgabe aber nur ungenügend. Die Parlamente bestehen schon lange nicht mehr

aus den "Besten der Nation". Als Vorbedingung für ein Parlamentsmandat

verlangen die Parteien von ihren Kandidaten jahrelangen Einsatz vor Ort.

Statt offener Wettbewerb entscheiden über den Erfolg politische

Verbindungen und Kungelei. Fähige Leute mit Alternativen in anderen Berufen

(so genannte Seiteneinsteiger) werden eher abgeschreckt.

 

Die Parteien stellen nicht nur das Parlament und die Regierung, sondern

nehmen in Deutschland auch da Einfluss, wo sie eigentlich nichts zu suchen

haben. Sie durchsetzen alle möglichen Kontrollinstanzen mit ihren

Parteigängern und suchen sie bis zu einem gewissen Grad gleichzuschalten.

Betroffen sind vor allem:

 

- hohe Gerichte, vor allem Verfassungsgerichte,

- die Spitzen der Rechnungshöfe,

- wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen

Hörfunk-/Fernsehanstalten,

- der öffentliche Dienst insgesamt, manchmal; bis hinunter zum Pförtner,

- Führungspositionen in öffentlichen Unternehmen,

- Spitzenpositionen in Schulen und allmählich auch in den Universitäten,

- Sachverständigenkommissionen und sonstige Gremien der wissenschaftlichen

Politikberatung und vor allem

- Einrichtungen der so genannten politischen Bildung.

 

Auf diese Weise bestimmt die politische Klasse die Grammatik der

politischen Korrektheit und damit auch den Rahmen für erlaubte öffentliche

Themen und Diskurse. Systematik gilt als inkorrekt - trotz des verbreiteten

Gefühls, dass etwas faul ist im Staate. Das macht es fast unmöglich, die

große Lücke zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen demokratischer Idee

und bundesrepublikanischer Praxis, überhaupt noch wahrzunehmen. Eine an die

Wurzel gehende Analyse muss deshalb auch die herrschenden Theorien über

Staat, Demokratie und Politik in die Kritik miteinbeziehen. Erforderlich

ist ein intellektueller Kraftakt. Am Ende müssen dann Elemente einer

erneuerten Theorie der repräsentativen Demokratie stehen, die nicht die

politische Klasse in den Mittelpunkt stellt, sondern die Bürger.

 

11. Da die Verzerrungen die Strukturen der politischen Willensbildung

betreffen, setzen wirkliche Verbesserungen ihre Entzerrung voraus. Es

bedarf der systemischen Restrukturierung. Nur mittels eines kontrollierten

Systemwandels wird es möglich sein, die Grundprinzipien der Demokratie in

deutlich höherem Maße zu verwirklichen als bisher. Gegen Auswüchse des

Parteienstaates gibt es am Ende nur ein wirksames und zugleich

demokratisches Gegengewicht: das Volk selbst. Wenn der repräsentative

Ansatz nicht voll trägt, weil die Repräsentanten sich nicht mehr am

Gemeinwohl orientieren; wenn der indirekte Weg, dem Willen des Volkes

Geltung zu verschaffen, nämlich der politische Wettbewerb, durch Kartelle

verstopft ist, drängt sich der direkte Weg umso mehr auf: die unmittelbare

Demokratie durch Volksbegehren, Volksentscheid, Initiative und Referendum.

Diese Institutionen können und sollen die repräsentative Demokratie zwar

nicht ersetzen, würden sie aber sinnvoll ergänzen. Um dem Volk mehr

Einfluss zu geben, brauchen wir grundlegende Verfassungsänderungen, wozu

auch ein Wahlrecht gehört, mit dem die Bürger ihre Repräsentanten in den

Parlamenten und an der Spitze des Staats wirklich auswählen (und für gute

oder schlechte Politik verantwortlich machen) können.

 

12. Aus eigener Kraft wird die etablierte Politik Reformen des Systems kaum

verwirklichen können. Gerade in diesem Punkt ist die Reformblockade

besonders ausgeprägt. Die Interessen, die das System verdorben haben,

wehren sich auch gegen seine Verbesserung. Zur Umsetzung der nötigen

Reformen kommen deshalb wohl nur drei Möglichkeiten in Betracht:

 

- die Nutzung des Artikels 146 Grundgesetz, der eine neue Verfassung

verheißt, zum Zwecke der legalen "Revolution",

- die Schaffung einer Protest- und wirklichen Reformpartei und/oder

- die Durchsetzung von Strukturreformen mittels Volksbegehren und

Volksentscheid, also an den Eigeninteressen der politischen Klasse vorbei,

zunächst in den Bundesländern, wo derartige Formen der direkten Demokratie

schon jetzt offen stehen.

 

Der Verfasser ist Professor für Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der

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Die zwölf Thesen beruhen auf seinem jüngsten Buch "Das System.

Die Machenschaften der Macht", Droemer Verlag München.

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